Auf die Jahrzehnte besehen sinkt die Jugendkriminalität. Der strukturelle Rassismus wird wenn auch träge überarbeitet. Die bürgerliche Ehe hat sich derart entwickelt, dass ihre rechtlichen Bedingungen keine Ähnlichkeit mehr zu denen am Anfang der Republik haben. Viele gesellschaftliche Institutionen in der jungen Bundesrepublik hatten mehr Ähnlichkeiten zu jenen in finsteren Theokratien oder gottlob untergegangenen Epochen als zu ihren mehrfachen Überarbeitungen der heutigen Zeit. Das gilt nicht nur für Deutschland sondern zum Leitwesen von Konservativen und Rechten für weite Teile Europas.
Selbstredend hat das Auswirkungen auf unsere Mentalität. Dass wir beispielsweise von toxischer Männlichkeit reden, erhält seine Signifikanz ex negativo, insofern die Mehrheit meiner Geschlechtsgenossen sich nicht mehr aufführen wie der letzte Franz Josef. Wir regten uns auch auf, als Kiews Bürgermeister in Camouflage ein Interview gab. Die Camouflage wurde als aggressives Signal gedeutet. Kaum jemandem fiel auf, dass diese Etikettierung eine doppelte Umwertung voraussetzt: Vor den modernen Armeen trugen Soldaten den sprichwörtlichen bunten Rock. Diese Semiotik teilen sie mit hawaihemdprotzenden Luden. Die Camouflage dagegen ist die Arbeitskleidung des Soldaten, die ihn vor der Aggression des Gegners verbergen soll.
Die ausführenden Organe des Aggressors tragen eben dieselbe Funktionskleidung. Gegen den Aggressor kann man sich nur verteidigen, indem man aufsieht schießt. Nun könnten wir für uns entscheiden, uns nicht auf das Spiel einzulassen. Jemand könnte den eigenen Tot dafür in Kauf nehmen, seinerseits nicht zum Mörder zu werden. Immerhin sterben ja Suchdienste russischen Soldaten als Opfer einer ungerechten Sache. Mit solchem Martyrium würde man ihnen aber gestatten, den Auftrag ihres Potentaten an all den Unbeteiligten zu vollstrecken. Viele russische Soldaten haben das durch die Propaganda gesetzte Soll übererfüllt.
Dies ist nicht erst seit Butscha so. Die Zeitenwende insbesondere der Grünen liegt schon Jahrzehnte zurück, nämlich in der Erkenntnis von Srebrenica. Wir brauchen eine Bundeswehr, die als Kriegspartei auftreten könnte. Sie ist eine Voraussetzung zur Diplomatie im Krisenfall. Die Erkenntnis, dass man Gewalt aufwenden muss, um dem Unrecht Einhaltzu gebieten, beschränkt sich nicht nur auf Grenzkonflikte oder extraterritoriale Einsätze. Auch im Inneren sollten Aggressoren damit rechnen müssen, dass Vertreter der angegriffenen Gemeinschaft in der Ultima Ratio verhältnismäßige Mittel ergreifen. Institutionalisiert wird diese Funktion generell in der Polizei, die aber beileibe nicht immer vor Ort ist, wenn die Aggression auftritt.
Weiterhin organisieren wir uns in verschiedensten Interessenverbänden, Parteien und Vereinen, die alle als letztes Mittel ein Zahn-um-Zahn in Aussicht stellen. Wenn ihr uns nicht ausreichend bezahlt, arbeiten wir nicht. Wenn Sie ihr Geld nicht rausrücken, gehen Sie hier ohne Schrippen raus. Wenn die lieben Regierenden die Klimaziele nicht nachschärfen, demonstrieren wir und ziehen vor‘s Verfassungsgericht. Vor den Gerichten liegen dann die Anwälte der gegnerischen Parteien im Streit. Selbst in einem Strafverfahren bekommt der Angeklagte im Zweifel einen Pflichtanwalt gestellt, um den Streit zu ermöglichen. All diese Institutionen ritualisieren ein Konkurrenzprinzip in der Überzeugung, im Streit würde man sich der Wahrheit, dem Gemeinwohl und dem Wohlstand in hinreichender Geschwindigkeit nähern. Nicht dass dieses Wahre, Schöne und Gute je erreicht werden würde. Auf die alten Konflikte folgen nur die neuen. Aber einerseits scheinen die aus der ständigen Konkurrenz folgenden Verhältnisse besser zu sein als das Warten auf die große Revolution bzw. deren Vereinnahmung durch die selbsternannten Inhaber des allgemeinen Willens. Andererseits erweist die Beschränkung der Mittel sich als wirkungsvoller als die Befriedung des Konflikts.
In den westlichen Wohlstandsnationen zehren wir so lange von den Früchten dieser Streitkultur, dass unser Wohlbefinden den Sinn des Streits, des Kampfes in Zweifel zieht. Ein streitbarer Gestus steht in Gefahr abgesehen von den angestrebten Zwecken als toxisch etikettiert zu werden. Dabei müssen wir das Gemeinwesen, in dem die Mittel der Konfliktparteien beschränkt bzw. ihre Rechte geschützt sind, im Zweifel gegen Okkupanten schützen. Gleichzeitig müssen wir die inneren Widersprüche unserer Gesellschaft überarbeiten und das können wir nur im Konflikt miteinander. Dies fordert den Einzelnen eine Gratwanderung ab. Einerseits müssen sie die in den verschiedenen Konflikten eingesetzten Mittel beschränken, sozusagen das eigene Toxin mäßigen. Wenn die individuellen Mittel gemäßigt sind, wird die Organisation, die Solidarität zur taktischen Notwendigkeit. Sie fordern uns aber eine Abstraktion unserer partikularen Interessen ab, einen kleinen volonté général gewissermaßen, der aber im Konflikt mit seinen Formulierungen durch andere gesellschaftliche Akteure steht. Zum anderen müssen wir zeigen, dass wir respektable Mittel in diese Konflikte einbringen.
Die gesellschaftliche Resilienz erfordert darüber hinaus, dass wir verdeutlichen, wie wir reagieren, falls jemand im Inneren oder von Außerhalb die Mäßigung der Mittel aufgibt. Uns müssen die Kompetenzen zur Reaktion auf toxische Verhaltensweisen zugerechnet werden. Diese Kompetenzen verhalten sich allerdings zu toxischen Verhaltensweisen komplementär. Soldaten schießen, ob nun in der Offensive oder aus der Defensive. Die Mitglieder einer freien Gesellschaft müssen den Widerspruch zwischen erlebter Freiheit und der zu ihrem Schutz notwendigen Autorität und Streitbarkeit verinnerlichen. Ich als Individuum, Mitglied verschiedener Organisationen und eines Gemeinwesens könnte weitergehende Mittel anwenden. Ich könnte das entsprechende Gegengift produzieren. Ich bin zu dieser komplementären Toxik imstande. Ich bin toxabil. Mit dem, sagt man, ist nicht gut Kirschenessen. Um den gemeinsamen Genuss wäre es zu schade. Aber dass mit dem nicht gut Kirschenessen wäre, ist eine notwendige Zutat gemeinschaftlicher Konfliktfähigkeit. Die Konfliktfähigkeit meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger Voraussetzung der Resilienz meines Gemeinwesens. Ich wünsche mir also ein starkes Gemeinwesen aus streitbaren Parteien und Verbänden. Ich wünsche mir deshalb eine Gemeinschaft der Toxabillies. Auch die individuelle Produktion der Gegengifte will geübt sein, bevor sie benötigt werden. Wir sollten uns daher nicht jede ungehobelte Umgangsform versagen. Vielmehr sollten wir diese in geeignetem Rahmen üben, wie die Mittel zur Zurückweisung von Gewalt im Judoverein. Das Judotraining ist eine als-ob Gewalt. Wir sollten uns durch eine ironische Toxik gegenseitig toxabil halten. Gerade in politisch unsicheren Zeiten mit hinreichend Krisenszenarien will ich beruhigt von mir sagen dürfen: Ich bin ein Toxabilly - und die Meinigen sind es auch!