Gretchenfrage der Gemeinschaft

 

Unser globales Dorf zeichnet sich durch die Mobilität seiner Bürger, die Agilität seiner Umgestaltung und die Reichweite prinzipiell aller Informationen aus. Da wird man ja wohl noch nach einem Halt suchen dürfen! Das heißt doch gar nicht, dass wir diese Bewegungen verweigern oder die uns angetragenen Annehmlichkeiten verschmähen. Ich speise doch bei den Fremden, kaufe die Neuheiten und höre die Weisen aus Übersee! Und was wäre besser als den Halt in etwas allgemein, etwas allzu Menschlichem zu suchen. In etwas, das ich habe  und was mir nicht genommen werden kann: Meine Identität. Dann können mich jene Bewegungen nicht zum Spielball machen. Ich habe einen festen Grund. Aber wenn jeder eine hat, so eine Identität, dann will ich meine, meine eigene und das ist nicht eure.

 

Auf so einer Argumentation wird wohl der Erfolg des seiner Herkunft nach rechten Begriffs der Identität beruhen. Mit Erfolg meine ich, den Sprung aus dem rechten Milieu heraus. Ich frage mich, ob der Identitätsbegriff überhaupt sein Versprechen, Halt zu bieten einlösen kann. Vielleicht ist er eine self-disturbing prophecy, die aber gerade das Bedürfnis verstärkt, dessen Befriedigung es stört.

 

Die Verlässlichkeit der Identität wird durch den sence of belonging an eine Gemeinschaft gebunden, womit die Frage dringend wird, was wir mit diesem Begriff meinen. Häufig wird Gemeinschaft als eine Gruppe definiert, deren Mitglieder sich eine bestimmte Eigenschaft teilen. Dies schafft eine klar definierte und intuitiv erkennbare Zugehörigkeit, die Identifizierbarkeit. Diese scheint mir folgende Funktionen zu haben: Der Herrscher hat das Bedürfnis, seine Untertanen zu identifizieren. Ihre Loyalität ihm gegenüber ergibt ihre Identität als eine Art Gewährleistung. So kann er die Seinen in die Schlacht gegen die Fremden schicken. Aber dieses Prinzip ist auch demokratisierbar: Ich kann mich z.B. mit meinem Volk in eben der Weise identifizieren, so dass schon die Feindschaft zum Nachbarn diese Loyalität absichert. Jeder herrscht ein wenig über die anderen, damit die ihm die Fremden vom Hals halten.

 

Weiterhin kann die Unterscheidbarkeit von Gruppen die Ausbeutenden von den Auszubeutenden scheiden.  Gerade hier erfüllt eine unwillkürliche wie äußerliche Eigenschaft der Auszubeutenden ihre Identifikation optimal. Der transatlantische Sklavenhandel hat seine Opfer aus ihren angestammten Gemeinschaften gerissen. Durch die Identifikation des Schwarzen hat sich der Weiße erst erschaffen. All die bis hier aufgezählten  Vergemeinschaftungen über Gemeinsamkeiten sind Kampfverbände oder ihr unfreiwilliges Gegenüber. Die Ausbeutung setzt Herrschaft voraus, kann aber auch zwischen den Kriegen als ganz ziviles Geschäft betrieben werden.

 

Mit Gemeinschaft muss aber keine solche gleichförmige Gruppe gemeint sein. Die Insassen eines Bootes qualifizieren sich nicht zu einer Gemeinschaft, indem sie z.B. alle blond sind. Vielmehr werden sie zu einer Gemeinschaft, indem sie sich umeinander kümmern, was die Steuerung des Kahns miteinschließt. Werden Menschen aufgrund einer gemeinsamen Eigenschaft als die Auszubeutenden identifiziert, ist die Strategie, sich mit den anderen Betroffenen zu solidarisieren ein Beispiel solcher Fürsorge. Sie ist aber die Reaktion auf Herrschaft und Ausbeutung, womit sie ein Provisorium darstellt.

 

In eben dem eingangs skizzierten globalen Dorf führt die Auffassung von Gemeinschaft als einer gleichförmigen Gruppe ständig zu Widersprüchen: Einmal einen Fremden geheiratet und schon gibt es bald einen Menschen, der weder in die eine noch in die andere Gleichförmigkeit passt. Bei den Projekten globaler Relevanz können wir uns nicht auf die Kooperation Gleicher beschränken. Auch bin ich einfach zu neugierig, um ausschließlich Musik derer zu hören, die so sind wie ich. Je leidenschaftlicher ich mich also der Rückkopplung aus Idendifizierung und Identifikation hingebe, desto grundsätzlichere Irritationen werden meine eigenen Alltagspraxen gebären. Schon in meinem urdeutschen Eintopf schwimmen Kartoffeln (Amerika), Kümmel (Orient), Mohrrüben (Maghreb) und Liebstöckel (hinter der Datsche). Ein Blick in dieses Gemisch müsste jeden Eigner einer gefestigten Identität in den Wahnsinn treiben.

 

An dem Begriff der Identität soll wenigstens der sence of belonging gerettet werden. Dieser kann einerseits meinen, dass ein Ganzes gibt, das mir um den Preis der Integration eine Zugehörigkeit gewährt. Insoweit ich meine Kritik der Verhältnisse ablege oder wenigstens vertage, erhalte ich eine Heimat. Einen erträglichen Teil der Kritik darf ich äußern, wenn ich mich als einer von hier qualifiziert habe. Wenn man dieses Zugehörigkeitsgefühl als ein Menschenrecht anerkennt, verbietet es sich, den identifikatorischen Zirkelschluss fremder Gemeinschaften und seine Inhalte zu kritisieren. So kann man auf die Idee kommen, der in der iranischen Revolution aus der Taufe gehobene Islamismus wäre ein gleichberechtigter Diskurs zu den demokratischen Diskursen des Westens. Indem Michel Foucault durch diesen Relativismus europäische Intellektuelle wie iranische Exilantinnen  provozierte, befreite er den Begriff der Identität aus dem Reservat rechten Denkens und den Begriff der Gemeinschaft von seinen moralischen Voraussetzungen.

 

Eine sich über die Identität ihrer Mitglieder definierende Gemeinschaft kann nach diesem Relativismus von allen Akteuren gestiftet werden, sogar von Teilgruppen emanzipatorischer Bewegungen. Solche Gemeinschaften bezeichnen sich fortan als Communities. Ihr wesentliches politisches Ziel  ist die Gleichberechtigung im Einerlei der Identitäten. Die Kader dieser Bewegungen vereinnahmt den Begriff der Emanzipation: Identity politics stelle die einzig mögliche emanzipative Strategie dar.

 

Die Übernahme des Identitätsbegriffes durch vordem emanzipative Gruppen scheint mir geradezu das Ergebnis eines ideologischen Stockholm-Syndroms zu sein. Diese Auffassung von Gemeinschaften grenzt diese kategorisch gegen ihre Umgebung ab und entwertet deren Antworten im Dialog. Die Auffassung von Gemeinschaft als Gruppe Identischer passt hervorragend zu den Geschäftsmodellen der sozialen Medien, weswegen sich die Communities stetig vermehren. Die jeweiligen Diskursregeln sind Interna, anhand derer den Externen ihre Rückständigkeit vor Augen geführt werden kann.

 

Das Recht auf Identität – also das Recht auf das Unvermeidliche - erhebt jede Befindlichkeit zum gleichwürdigen Projekt mit der effektiven Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die Übernahme eines zentralen Begriffes rechter Ideologie richtet aber noch etwas anderes an: Da jetzt auch links Beheimatete und Emanzipatoren den Begriff, die damit verbundenen Strategien und Gemeinschaftsdefinition übernehmen, können Rechte ihre Ideologie als eine wenn auch verfemte Variante der einzig wahren Emanzipationsstrategie vertreten.

 

Die Sehnsucht nach Gleichförmigkeit führt in Selbstwidersprüche, die bei bornierter Reflexion die Sehnsucht verstärken.  Ich hoffe bloß, dass das vielstimmige identitäre Palaver Einigungsprozesse erzwingt, die über den Identitätsbegriff hinausweisen. Die müssten meiner Meinung nach einen Gemeinschaftsbegriff in den Blick nehmen, der die Sorge des Menschen um den Menschen als konstitutiv ansieht. So wird eben nicht das identitäre Alleinstellungsmerkmal, sondern die Beziehung der Mitglieder zum Inhalt der Gemeinschaftsdefinition, womit Gemeinschaften sich nicht durch eine identifizierbare Außengrenze, sondern die Qualität der Beziehungen erleben. Ob wir meinen, dass Eigenschaften oder dass Beziehungen Gemeinschaft stiften, also eben Solidarität, ist die Gretchenfrage des Sozialen. Meiner Meinung nach liefert sie das Unterscheidungsmerkmal von Links und Rechts.

 

Ich kann mir bei einer recht überschaubaren Anzahl von Menschen einer intensiven Beziehung, einem dichten Gewebe der Fürsorge sicher sein. Aber die Fernen sind in dieser Auffassung nicht die ausgemeindeten Anderen. Ich kann mich aber um ihre konkreten Bedürfnisse nicht in gleicher Unmittelbarkeit kümmern. Wohl kann ich aber dazu beitragen, dass sie die Mittel zur Fürsorge erhalten. Zentral sind unter diesen Mitteln jene, die ihre Eigner befähigen, Herrschaftsansprüche zurückzuweisen, womit Emanzipation zu einem allgemeinen Maßstab des Gemeinschaftlichen wird. Eine Gemeinschaft in diesem Sinne konstituiert sich in der Sorge des Menschen um die Freiheit der Anderen. Ein solcher Gemeinschaftsbegriff ist allerdings nicht neu, allerdings stellt er radikale Forderungen an unser politisches Handeln, denen gegenüber Identitätspolitik als riskante Volte erscheint. Die wesentliche Eigenschaft eines solchen Gemeinschaftsmitglied ist nicht die gefestigte Identität, als stubenreine Borniertheit, sondern eine sich der Freiheit verpflichtende moralische Integrität. Identität degradiert Solidarität zur taktischen Notwendigkeit des Stellungskrieges. Integrität ermöglicht Solidarität mit den Weggefährten, sie beheimatet uns auf dem Weg.

Kommentare: 1
  • #1

    Revax (Freitag, 14 Mai 2021 15:04)

    Guter Essay. Sehr interessant.
    Ich les auf jeden Fall weiter!
    Grüße Revax