Aufwachen!

Finanz- und Wirtschaftsminister sind gegenüber der Idee eines umfassenden Embargos gegenüber Russland zurückhaltend, das Embargo wird so zu einem fortschreitenden Projekt. Damit ergibt sich ein Szenario für die Ukraine, in dem der Krieg verschiedene Phasen durchläuft. Im Stern wird an den jahrzehntelangen Guerillakrieg der Ukraine gegen die sowjetische Zentralmacht erinnert. Damals wie heute lässt sich eine solche Reaktion auf fremde Herrschaftsansprüche moralisch allemal rechtfertigen. Die Herrschaftsansprüche der russischen Machthaber nicht. Den von ihnen verfeuerten Soldaten gegenüber nicht, der Bevölkerung der Ukraine erst recht nicht. Falls man an diesem Punkt vorschlägt, die Ukraine solle sich in ihr Schicksal fügen, wie schlussendlich auch in das sowjetische, müsste man dies allen folgenden Opfern russischen Expansionsstrebens ebenso vorschlagen. Dabei sollte man die Nationalgrenzen zwischen sich und dem Aggressor gut abzählen.
Daher scheint es besser, die Phasen des militärischen Krieges zu verkürzen, indem man den Handelskrieg komprimiert. Hierzu scheint es mir notwendig, den eigenen Staat und die Staaten des eigenen Bündnisses mit dem entsprechenden Kapital auszustatten, um Russland so schnell wie möglich von der Weltwirtschaft abzukoppeln. Europa hat sich weitgehend von der Vermögensteuer verabschiedet, diese würde mit entsprechender Progression sowohl entsprechende Einnahmen generieren als auch den ökonomisch resilienten Teil der Bevölkerung angemessen belasten.
Die Einnahmen können in eine beschleunigte Klimawende, Unterstützung der vom Embargo betroffenen Betriebe, Entlastung ärmerer Bevölkerungsgruppen und der Integration von Flüchtlingen investiert werden. Endet der Krieg mit der Befreiung der Ukraine oder sogar zusätzlich mit der Demokratisierung Russlands, handelt es sich schon im eng ökonomischen Sinn um eine Investition: Europa könnte dann ein sogar im globalen Vergleich großer Wirtschaftsraum werden. Wie bei jeder Investition gibt es Risiken, mit deren Abwägung alle politisch Handelnden gerade täglich ringen.
Die Politik der letzten Jahre suggerierte, dass bei moralischer Zurückhaltung die naturhaften Dynamiken der Märkte die Arbeit verrichten würden, ohne das Politik unabsehbare Risiken eingehen müsse. Wandel durch Handel eben. Es gibt allerdings keine zwingende Verbindung zwischen ökonomischer und politischer Entwicklung. Nach den Maßstäben sogenannter Liberaler wie Milton Friedman oder Friedrich Hayek z.B. ist die Diktatur die optimale Ergänzung freier Märkte und Putin wäre ihrer beider Musterschüler. Die Rechnung solch politisch-moralischer Indifferenz bekommen wir gerade nebenan präsentiert.
Nach Dekaden des Neoliberalismus müssen wir uns fragen, wie stark wir uns einen demokratischen Staat wünschen, damit er bei eintretenden Krisen umgehend reagieren kann. Seine Kraft bemisst sich zuerst am Staatsvermögen, das auch unverzichtbar für die Gestaltung langfristiger Entwicklungsprojekte ist. Vor allem ist es die notwendige Voraussetzung dafür, dass nicht jede Krise die Projekte vertagt, die die nächsten Krisen vermeiden sollen. Wir sollten nicht darauf setzen, dass uns in allen zukünftigen Notfällen je ein expansionslüsterner Despot zur Räson bringen wird.
Eine starke und bündnisfähige Republik ist allerdings nicht mit einer generellen Niedrigsteuer-Ideologie zu haben. Schon Feudalstaaten schätzten im Anblick ihrer Konkurrenten volle Staatskassen. Eine Republik im Einzugsbereich von Diktaturen muss sie lieben. Ein paar Jahrzehnte nach dem angeblichen Ende der Geschichte leben nur noch sechs Prozent der Weltbevölkerung in sogenannten vorzüglichen Demokratien. Sie tun gut daran, untereinander Solidarität zu üben. Dies heißt aber auch, dass sie die Mittel zu solcher Solidarität vorhalten und diese vertraglich festschreiben müssen.
Ein Staat, der die zentrale Bedeutung seines Vermögens verstanden hat, kann auch zu einem vorbildhaften Arbeitgeber für Gesundheitswesen , Erziehung, Bildung, Umweltschutz usw. und eben auch für seine - demokratisch kontrollierte - Armee werden. Dies wird Liebhaber des Billiglohnsektors nicht freuen. In einer starken Republik könnten Hipster gezwungen sein, ihr Tannenzäpfle zu Fuß vom Späti abzuholen. Zudem muss ein solcher Staat die fiskalischen Lasten der Gemeinschaftsprojekte sozial angemessen verteilen. Schon durch diese beiden komplementären Effekte würde die Gesellschaft näher zusammenrücken: Sowohl in er Identifikation mit demokratisch ausgehandelten Gemeinschaftsprojekten als auch ganz schlicht durch die schrumpfende Varianz von Einkommen und Vermögen. Touristen aus Despotien würden aus bloßer Anschauung solch freier Verhältnisse gefährliche Andenken in die Propagandarealität ihrer Herrscher reimportieren.
Das Schicksal der Ukraine beweist uns, dass wir diese Kritik des Neoliberalismus Dekaden früher hätten leisten müssen. Wandel durch Handel war schon immer eine querköpfige Rechtfertigung der Korruption westlicher Demokratien in Sachen Außenhandel mit Despoten. Wir kennen nun den Preis dieser Relativierung. In der Auseinandersetzung mit dem nach Taiwan schielenden China dürfen wir nicht an derselben Doktrin festhalten, die uns Krieg in Europa beschert hat. Und wir müssen jetzt unmittelbar und nachhaltig Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigen, das gerade den Preis unserer politischen Denkfehler bezahlt. Nach den im Westen komfortablen Zeiten des kalten Krieges und denen nach dem sogenannten Ende der Geschichte gibt es eine moralische Pflicht: Aufwachen!