Die meisten von uns fühlen uns so irgendwie in der Mitte am wohlsten. Irgendwie schaffen wir es auch meist, nachzuweisen, dass wir zum Mittelfeld gehören. Abweichungen fordern uns schon vor deren Veröffentlichung eine Rechtfertigung ab. So sortieren wir unser Namenskärtchen bei moralischen Vorzügen gern etwas über dem Mittelfeld ein. Bloß so weit darüber, dass wir uns keine Eitelkeit vorhalten bzw. vorhalten lassen müssen. In der Rangliste der Niedertracht legen wir uns dann spiegelverkehrt die Karten. Beim sozialen Status ist die Abschätzung pikanter, da Erfolg einerseits als Ausweis von Kompetenz und Integrität gilt, Besitz von Privilegien aber ebenso mit moralisch fragwürdiger Ungleichheit. Mit gehobene Mittelschicht als Selbstauskunft ist man von jeher gut beraten.
Auch bei den Weltanschauungen und Überzeugungen würden die meisten von uns gern den Komfort der Mittelmäßigkeit genießen. Darüberhinaus sollten meine Überzeugungen zu meinem sozialen Status passen. Ein pauperistischer Milliardär müsste zwischen drei Alternativen wählen: Erstens kann er seinen Pauperismus so weit relativieren, dass exakt sein Vermögen als die kleinstmögliche Armut durchgeht. Zweitens könnte er die Produktion und Kommunikation von Glaubenssätzen generell zu einem Partyspiel ohne realpolitischen Anspruch degradieren. Nur so können manche Techmilliardäre ausrufen, Gleichheit wäre jetzt out, dafür Unsterblichkeit in. Übrigens kann man sich erst ab einem gewissen Vermögen ein derart blasiertes Verhältnis zu den eigenen Meinungen leisten, da dies voraussetzt, dass eine diese umsetzende Politik mittelfristig keinen Einfluss auf das eigene Leben hätte.
Ein weiteres Problem taucht unweigerlich auf, wenn die übliche Lebensart ökologische Krisen heraufbeschwört, die eben diese Lebensart radikal infrage stellen. Übrigens können diese auch soziale Folgen ökologischer Entwicklungen betreffen. Leben wir dereinst auf der ökologischen Insel der Glückseligen, wo die Klimawandelfolgen nur halb so wild ausfallen, verbringen unsere Kinder sicher ein unfreiwilliges soziales Jahr an der Mittelmeerküste - mit der Maschinenpistole in der Hand. Dem Bewohner wohnlichen Mittelmaßes konvinieren solche Szenarien nicht.
Die Anwälte unseres Mittelmaßes schützen es dankenswerterweise durch einen moralischen Umkehrschluss: Sie halten den Enden jeder denkbaren weltanschaulichen Skala moralische Zweifelhaftigkeit vor. Gern wird auch darauf hingewiesen, dass sowohl Links- wie auch Rechtsradikale Ruhe und Ordnung für die zwangsläufig zwischen ihnen lebenden Mittelprächtigen gefährden.
Dabei werden die Wörter radikal und extrem geradezu austauschbar benutzt, obwohl sie von der Wortherkunft nicht unterschiedlicher sein könnten. Tatsächlich geht radikal auf den gleichen Wortstamm zurück wie Radie oder Radieschen. Ein Radikaler ist also ersteinmal jemand, der der Wurzel von etwas nachforscht, also irgendeiner Frage auf den Grund geht. Die grundsätzlichen Antworten, die er dort findet, werden ihm wegweisend, ja zwingend. Aus dem Wort geht allerdings nicht hervor, ob diese Antworten besonders ausgefallen sind oder schon Allgemeingut. Es scheint auch vorerst nichts über die vom Radikalen eingesetzten Mittel zu sagen. Nimmt der Radikale die nach tiefgründiger Auseinandersetzung gefundenen Antworten aber als handlungsweisend, muss er sie als Kriterien zur Beurteilung der eingesetzten Mittel akzeptieren. Einem Radikalen dürfte der Zweck also gerade nicht die Mittel heiligen. Wenn z.B. ein mitteleuropäischer Linker seinen sozialen Status, sagen wir einmal Mittelschicht, in einen globalen Vergleich stellen, müsste er sich als privilegiert einstufen. Diese Selbsterkenntnis stellt aber nicht notwendig sein Weltbild infrage, womöglich aber seine tagespolitische Haltung. Es ergibt sich also kein Problem der Ideologie, sondern eines für deren Umsetzung.
Als Extrem qualifiziert sich etwas durch seinen Abstand zu einer gedachten Mitte. Der Extremist vertritt eine Meinung weitab des Mainstreams. Er ist ein Abweichler aus vollem Willen. Wenn sich sein Selbstwertgefühl aus diesem Abstand speist, hat das einen relevanten Einfluss auf die Achtung gegenüber den Stinknormalen: Verachtung. Sie ermöglicht ihm eine freizügigere Wahl der Mittel, terroristische eingeschlossen. Dies stellt einen Befreiungsschlag von kleinlichen Konventionen dar, auch wenn die sich so ergebende Politik womöglich auf wesentlich weniger gesellschaftliche Gegenliebe stößt. Treffen zwei sich radikal unterscheidende Meinungen aufeinander, fragt sich, welcher Parteigänger der Extremist ist. Beim oben dargestellten Zukunftsszenario des militärisch verteidigten Shangri-La würden die meisten das Szenario, dass die junge Generation ihre Jugend mit dem Massenmord an Bootsflüchtlingen verbringen solle, erschrocken zurückweisen, selbst wenn sie sich nicht radikal für eine ökologische Wende einsetzen. Wer ist auf diesem Hintergrund der Extremist - die Ökoradikalen oder die konsumistischen Alltagsfatalisten?
Schon hier zeigt sich, dass nicht jede Weltanschauung einem radikalen Zugriff standhält. Dies gilt noch weit vernichtender für den Rechtsextremismus. Die meisten in ihm formulierten Fragen - nach Rasse, Überlegenheit, den Wert des Krieges, Führerprinzip etc. - würden bei radikaler, auf den Grund gehender Reflexion und Erforschung zu Antworten führen, nach denen man aus jeder rechten Partei der Welt herausgeworfen würde. Hier liegt also kein Problem der Umsetzung vor, sondern eins der Ideologie. Tatsächlich setzen viele Staaten der Erde hier und da ein wenig rechtes Gedankengut um. Die reichen Industriestaaten z.B. in ihren Grenzregimen und ihrer Migrationspolitik. Rechtes Gedankengut hat ein grundlegend ideologisches Problem: Rechte Theorien lassen sich weder begründen noch verallgemeinern. Nach all dem muss eine Gemeinschaft sich vor einem alle Mittel heiligenden Exztremismus wirksam schützen.
Die Zahl der Rechtsextremisten ist inakzeptabel hoch. Ob auch nur einer von ihnen das Prädikat radikal im erläuterten Sinne verdient, wage ich zu bezweifeln. In anderen politischen Lagern wird es auch viele oberflächliche Extremisten geben, denen wahlweise das Eigentum, die Verstaatlichung der Produktionsmittel oder was immer als heilig gelten. Die Radikalen verschiedenster Weltanschauungen, die diesen also auf den Grund gehen, sollten sich gegenseitig als die interessantesten, für die Überprüfung und Umarbeitung der eigenen Anschauungen kompetentesten Gesprächspartner anerkennen.
Die Bewohner der weltanschaulichen Komfortzonen sollten im politischen Radikalismus eine notwendige Methode zur Überprüfung politischer Allgemeinplätze sehen. Die Radikalen schrecken nicht davor zurück, unsere alltägliche Politik auf deren Zukunftstauglichkeit, ihre moralischen Implikationen und ihre Bedeutung im globalen Dorf zu überprüfen. Die Aussagen manch eines Radikalen mögen uns vorerst extrem erscheinen. Vielleicht sind aber auch unsere bezweifelten Haltungen extrem, messen wir sie an Ansprüchen an unsere Zukunft, die wir nicht aufgeben können und wollen. Der Konvent der Radikalen dient als Hexenküche der Zukunftsentwürfe.
Bloßen Extremisten sollte man das Prädikat der Radikalität konsequent vorenthalten. Neigen sie auch bei der Wahl der politischen Mittel zum Extrem, muss das mit verhältnismäßigen Maßnahmen bekämpft werden. Auch der so geschützte Normalbürger sollte sich aber so viel Radikalität abfordern, dass er sich radikalen Entwürfen unbefangen stellen kann. Ein solch radikales Gespräch ist Voraussetzung zukunftsfähiger Politik.