“… Geschichte ist es wert …”
Da der Gast im roten Hemd hinter dem Bogen saß, der die beiden Zimmer fast zu einem verschmelzen ließ, seitlich an den Mauervorsprung gedrängt, fehlten ihm hier Satzanfänge, dort die Enden. Er vermutete, das diese verallgemeinerte Wertschätzung von der vorigen Autorin kam, aus deren Erzählung ihm nur das Rezept für Lorbeertee hängen geblieben war. Ab und an taucht ein Fotograf im Türrahmen auf, schießt ein paar Bilder und zieht sich wieder zurück.
“Aber nicht jede Geschichte wird zu einer Erzählung.” gab der Autor der letzten Erzählung zu bedenken. Er war auch der Gastgeber, der Veranstaltungsort sein Wohnhaus. Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden, ging dem Rothemd im Kopf herum. Die Dame hinter ihm hatte das Fenster geschlossen, wegen der Störgeräusche, der Sommerabend war schwül und er nicht sicher, ob er morgens seine Blutdrucktabletten eingenommen hatte. Schon um sich Erleichterung zu verschaffen, stand er auf drängte sich in den Bogen, schätzte die Wirkung seines Erscheinens ab und rief ohne auf das Saalmikrofon zu warten, jemand hatte das Fenster wieder geöffnet, gegen den wieder anschwellenden Lärm:
“Heiner, an welchem Punkt hast du entschieden, welches Motiv, deine Geschichte zu erzählen?”
“Ich bin nicht Heiner!” betonte der Autor, “Das ist alles fiktiv, aber getränkt von meiner Erfahrung. Aber das Motiv, Versöhnung, denke ich. Der Heiner muss sich mit seinem Vater…”
“Da draußen regnet es, mein Schatz!” raunte die Dame in der hinteren Reihe in Hörgerätelautstärke.
“Du spinnst, mein Schatz, es ist trocken und bleibt trocken!” ranzte ihre männliche Begleitung sie an und interpunktierte mit seinem Gehstock.
In der Hoffnung den Disput hinter ihm zu befrieden, sagte das Rothemd über die Schulter: “Rasenspränger, die Nachbarn sprengen wahrscheinlich den Rasen …”
“…aber Heiner ist eine Figur.” beendete der Autor, der nicht Heiner war, seine Ausführungen. Dazwischen, den Teil während der Rasensprengerdebatte waren wahrscheinlich entscheidend, konnte der Mann hinter dem Mauervorsprung nicht folgen. Die Autorin mit dem Lorbeerteerezept hob zu einer ihrem Einatmen nach längeren Klarstellung an, als die Türe aufflog. In ihr stand eine riesenhafte Frau im Blaumann, eine kegelförmige Figur. Der Gastgeber, der nicht Heiner hieß, stand mit fragender Miene auf.
“Ich muss hier ein Rohr verlegen!” sagte die Riesin im Blaumann.
Der nicht Heiner hieß, ein freundlicher, hagerer Mann mit Hut beteuerte: “Wir haben niemanden beauftragt. Das tut mir leid für Sie!”
Die Installateurin drängte das auf Klappstühlen sitzende Publikum zurück. An ihrer Hand baumelte ein blecherner Werkzeugkasten wie eine Handtasche.
“Wie gesagt, Sie müssen hier gar nichts verlegen. Wir brauchen keine …”
“Jede Röhre ist es wert, verlegt zu werden!”
Die Dame weiter hinten hob eine kantige Faust: “Aber wenn hier nunmal niemand Ihre Röhre braucht!”
Die Installateurin drehte sich ganz langsam um, wobei sie den Zuschauer neben sich, da dieser nirgendwo mehr hin ausweichen konnte, umkippte. Sie sah die Dame an, ohne etwas zu sagen. Schließlich löste sich ihre Starre.
“Lassen Sie sich, meine Damen und Herren, von mir nicht stören. Ich verlege die Leitung und Sie genießen den Abend.”
Damit wendete sie sich wieder dem Gastgeber, der nicht Heiner hieß zu. Sie schritt ohne Rücksichten, aber immer noch bedächtig auf die Bühne, schob die Lautsprecher beiseite. Stellte den Kasten ab. Über dem seitlichen Ventil der Heizung markierte sie die Wand mit einem Kreuz. Der gestürzte Zuschauer hatte sich gerappelt, griff seine hinunter gefallene Jacke und verließ sich verstohlen umblickend, dem Gastgeber zaghaft winkend den Raum. Der rückte seinen Hut zurecht.
“Ein wenig Realität, die in die Kunst einbricht, hat ja noch nie geschadet!”
Die Installateurin nahm vom Kreuz zum Fenstersturz Maß. Der Mann mit dem roten Hemd wollte sich so gerne nützlich machen, hatte jedoch weder eine Idee wie, noch konnte er entscheiden, wem er nützlich sein sollte.
“Das wird ganz schnell gehen!” Die Installateurin steckte Stift und Maßband ein, sie schob einige Literaturinteressierte vor sich her in Richtung Ausgang, wo sie mit ihnen verschwand. Der Träger des Hemdes klappte ostentativ hier und da einige frei gewordene Stühle zusammen.
“Na, dann rücken wir halt näher zusammen und weiter geht’s!”
“Ja, liebe Getreuen der Kunst, haha, jetzt kommen wir nach kleiner Umbaupause zu etwas ganz anderem. Einer Literaturkritik, das ist ja auch eine Kunst.”
Die verbliebenen Zuschauer passten nun in den vorderen Teil des Raumes. Ein alter Herr mit schlohweißem Haar hatte am Mikrofon Platz genommen. Der nicht Heiner hieß, führte ihn kurz ein. Er würde Auszüge eines Essays über Heiners fiktionale Biografie als Appetithappen für die im folgenden geplante Diskussion vorlesen. Damit begann der alte Herr auch schon mit nachdenklicher Stimme. Er zeichnete das Leben Heiners und seines Schöpfers nach, als die Wand hinter ihm auf heulte. Gleichzeitig klirrten die Scheiben in den alten Fensterrahmen. Wieder erhoben sich einige Gäste Vorwürfe in Richtung des Gastgebers gestikulierend und gingen.
“Sie bohrt anscheinend!” schrie der Mann im roten Hemd.
Der Kritiker dachte nicht daran, seine Lesung zu unterbrechen, sondern nur seine eigene Lautstärke ständig zu steigern. In den sirenenhaften Gesang des Bohrers, der immer wieder anderes Material im alten Mauerwerk zu ergreifen schien, schrie er jetzt:
“Der Autor schreibt nicht über, über … nein aus … Verhältnisse, um die Verhältnisse… keine Veränderung … macht Hoffnung …”
Hinter ihm fielen ein paar Brocken Putz auf das Parkett. Der jammernd austrudelnde Bohrkopf zeigte sich kurz, nur um sich gleich wieder zurückzuziehen. Der Kritiker schaute hinter seinem Manuskript hervor, um in die unvermutete Stille hineinzubrüllen:
“… der Verhältnisse. Der vorliegende Roman über Heiner weiß darum ebenso, wie um die Notwendigkeit der Versöhnung …”
Die Installateurin kam zurück, diesmal mit einem Kaltschweißgerät, einer Rolle Alupapier und einigen Kupferrohren bewaffnet. Sie legt alles am Heizkörper ab. Der Gast mit dem roten Hemd, der zusätzlich zu seinem bürgerlichen Beruf gerne sowohl Künstler als auch Mitglied der Arbeiterklasse gewesen wäre, wandte sich an sie:
“Entschuldigen Sie, meine Dame, aber ich werde nicht schlau daraus. Wollen Sie die Heizungsanlage an irgendwelche Systeme außerhalb…”
“Reden Sie mit mir?” Die Installateurin zeigte mit einem monströsen Engländer auf ihn. Das Werkzeug zeigte Reste von Lack, schien aber sonst über die Jahre von schwieligen Händen brüniert.
“Was ich tu, hat seine innere Notwendigkeit und damit geht das in Ordnung!”
Damit setzte sie den Engländer an das Heizungsventil an, langte einen Sechspfünder aus ihrer Blaumanntasche, um den kleinen Finger vom Hammerstiel abspreizend dem Engländer einen kleinen Schlag zu versetzen.
“Ich frage jetzt mal nicht, ob das Wasser aus der Leitung gelassen wurde, sondern unseren Kritiker nach der Rolle engagierter Literatur bzw. der Rolle der eigenen Erfahrung darin.” Der nicht Heiner hieß, lächelte breit, die Installateurin schüttelte müde empört den Kopf. Sie breitete Alupapier unter dem aufgeschraubten Ventil aus.
“Nun, woher wissen wir denn von unseren Verhältnissen. Da wirkt Arbeitsteilung, indem der Autor aus Erfahrungen Erzählungen konstruiert, womit …”
Mit einem quietschenden Geräusch drehte die Installateurin ein Rohrende durch einen Rohrschneider, entgratete und säuberte die Schnittränder.
“Ich brauche jetzt einen Tee oder so - einfach nur für mich. Ich muss auf mich achten!” Die erste Autorin erhob sich. Ihrem Impuls schloss sich ein Pärchen an. Durcheinander redend spielten sie Achtsamkeit und die Überarbeitung der Verhältnisse gegeneinander aus, als die Dame des Hauses mit einem im Jugendstil gehaltenen Servierwagen voll gefüllter Sektgläser - die die noch anwesenden an Anzahl weit übertrafen - in die Tür trat. Vor ihr baute sich der kleine Stoßtrupp auf, um ein Glas nach dem nächsten futterneidisch zu leeren.
“So tu doch etwas, Heinrich!” ermahnte die Ehefrau den Gastgeber.
“Ich gebe mir doch Mühe und es läuft doch …”
“ … gut soweit. Wichtig ist das Flussmittel. Das muss alles im Fluss bleiben, sonst hat es keinen Effekt!”
Damit entzündete die Installateurin den Schweißbrenner. Das Rohrende mit aufgesetztem Winkelstück hatte sie quer über den Kasten gelegt. Sie erhitzte die Verbindung und zog das Lot mit bedächtiger Zärtlichkeit um die Röhre herum. Heinrich also, dachte der Gast im roten Hemd. Inzwischen wurde der Heizungsanschluss ausgeschmirgelt, eine Muffe aufgesetzt. Das Winkelrohr schob die Installateurin durch die Mauer und nahm mit einer weiteren Röhre Augenmaß.
Die letzten Gäste verließen den Kreis, nicht ohne ein Gläschen mit auf den Weg zu nehmen. Der Gast mit dem roten Hemd wollte die Gelegenheit sich in der Literaturszene einzubringen gegen alle Widrigkeiten verteidigen.
“Wir müssen eingreifen mit unseren Texten. Ich versuche das ja auch, auf meine Art! Aber Heinrich …”
Der Schweißbrenner fauchte wieder auf. Heinrich übersprang fahrig die letzte Äußerung.
“Mir, liebe Gäste, macht dieser Abend ganz viel Hoffnung. Auf jeden Fall dürfen wir das Gruppenfoto nicht vergessen! Kommt!”
Irgendwie schafften es Heinrich, der Kritiker, der Gast im roten Hemd, das ältere Pärchen und die Dame des Hauses links und rechts der der Wand zugewandt knienden Installateurin zu posieren. Der Fotograf ließ eine Bildserie in seine Digitalkamera einklickern.
“Ich glaube, da wird ein unvergessliches Bild dabei sein!” ermutigte er die Beteiligten.
“Hier bin ich jetzt fertig!” kommentierte die sich erhebende Installateurin stolz ihr Werk.
“Ich muss heute, also ich werd dann mal!” leitete der Gast im roten Hemd mit entschuldigender Miene seinen Abschied ein. Der Kritiker griff sich bei ihm unter.
“Heinrich es war wieder einmal wunderbar heute Abend! Gerade in diesen Zeiten müssen wir Künstler ja ein signifikantes Verhältnis zur Wirklichkeit finden.”
Durch die Mauer hörte man schabende Geräusche.
“Ja, ich danke selbst! Demnächst sitzen sie da vorne auf der Bühne, Herr … ?”
“Waren wir nicht schon beim Du?” fragte der Gast in rotem Hemd.
Plaudernd geleitete Heinrich die Gäste zur Tür, ließ sie aber das letzte Stück allein gehen, um nach seiner Frau zu suchen. Er konnte sie aber auf die Schnelle nicht finden. Draußen gluckste es polyphon, was seine Suche ablenkte. Heinrich trat in den lauen Sommerabend hinaus. An der Pforte schloss der Gast im roten Hemd sein Fahrrad ab. Der Garten war nun von einem Dornenkranz aus Röhren eingefasst. Die letzten Gluckser machten einem lispelnden Rauschen Platz. Überall um Heinrich herum rieselten feine Wasserstrahlen aus den Röhren, benetzten das Laub, tropften in Rinnen, strömten dem Hause wieder zu. Von all dem was hier vor sich ging, hatte Heinrich keine Ahnung gehabt und begriff es immer noch nicht.
Heinrich schaute das Werk der Installateurin. Und er sah, das es gut war.