Jemand sitzt mir gegenüber und erläutert mir die ganzheitliche Wirkung seines Papaya-Chia-Müslis. Mit einer Kollegin diskutiere ich, wie mit so vielen , ob sich die Wirksamkeit von Homöopathie nachweisen lasse. Auf der Grillparty schwadroniert ein befreundetes Pärchen über die pädagogischen Schlussfolgerungen aus dem Geburtshoroskop des taufrischen Erstgeborenen. Die meisten kennen diese Gespräche aus der einen oder anderen Perspektive. Finden sie zwischen Mitgliedern eines Milieus statt, begrenzt der Hausfrieden die Argumentation empfindlich. Dabei können sich die einen als die kreative Avantgarde gerieren, die anderen müssten ihnen so grundsätzlich die Haltlosigkeit der vertretenen Theorien nachweisen, dass dies vorsichtshalber als Intoleranz und Unverschämtheit hingestellt wird. Dann denk ich schnell: Lass sie doch ihre Globuli schlucken, der Sohnemann wird sich schon von den kruden Erziehungsmethoden freischwimmen...
Und dann verlasse ich mein bildungsbürgerlichen Milieu. Für einen Lehrer bedeutet das, den Flur zu überqueren, da Schule sogar in Deutschland Milieus übergreift. Mir zeigen Schüler das Video über die Rattenfrau, das beweist, wie Gott die Ungläubigen straft. Ich höre Rassentheorien, wenn auch an meiner Schule zufälligerweise nicht germanenduselig. Klimawandel und Evolutionstheorie werden angezweifelt. Das ist keine Kritik speziell an den Milieus meiner Schülerschaft, da ich diese Meinungen für eine Auswahl der reaktionären über antidemokratischen bis menschenverachtenden Ideologeme halte, die Teil unserer Kultur sind. Ich kreide sie auch nicht diesen anderen Milieus an, bevor nicht meinem der Spiegel vorgehalten wurde.
Nun ist die große Stärke wissenschaftlichen Denkens, dass es nicht an behaupteten Inhalten festhält, sondern gerade in deren Überprüfung, der Falsifikation ihren Sieg feiert. Theorien werden als verlässliche Grundlage gesellschaftlicher Diskurse genutzt, wenn und so lange sie der Falsifikation trotzen. Dies heißt aber umgekehrt, dass Theorien, die immerzu widerlegt werden, keinen solchen Status beanspruchen können. Dazwischen gibt es eine Grauzone, in der die Speerspitzen neuer Paradigmen ihre ersten Modelle ausbrüten. Die oben genannten Avantgardismologien belegen aber so dauerhaft die ersten Plätzen im wissenschaftlichen Bullshit-Bingo, dass sich die Frage aufdrängt, warum irgendwer daran glaubt oder vielmehr noch, warum die jeweiligen Kader sie bewerben und verteidigen.
Für letztere Frage kann man noch das Verhältnis der Akteure zu den epistemeologischen Tugenden der Gewissheit, der Präzision, der Objektivität und der Wahrheit prüfen. Diese Prüfung müssen sich übrigens alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Peerreview gefallen lassen. Wenn man den Attest wissenschaftlicher Redlichkeit partout nicht ausstellen kann, fallen mir nur drei Motive der Durchhaltetaktik ein: Geld, Macht und Ressentiments. Auf manch einen Theoretiker endlos falsifizierter Theorien trifft da von allem ein Bisserl zu.
Innerhalb meines Milieus bin ich um Frieden bemüht, so dass ich oft darauf verzichte, wissenschaftliche Redlichkeit als Maßstab für öffentlich vertretene Theorien einzufordern. Kritisiere ich dann außerhalb dieses Milieus die Faktengrundlage bedenklicher Ideologien mit den gleichen Maßstäben, entlarven die Kritisierten meine Argumentation als Standesdünkel: Na, feiner Herr Lehrer, würden sie diese Argumente auch gegen Ihre Kollegen und Freunde anwenden? Ertappt, touché meine Damen und Herren!
Und spätestens dann müsste ich antworten : Ja, versprochen! Ich werde den Frosch meines Standesdünkels hinunterschlucken. Ich werde mich aus der Borniertheit der durch mich vertretenen Institutionen erheben. Und ich werde mir eben solche Kritik meinerseits gefallen lassen. Wenn wir um der Höflichkeit willen ein Kriterium rationaler Prüfung nach dem anderen aus dem Spiel nehmen, können wir sie nicht anwenden, wenn angesichts menschenverachtender Theorien der Ernstfall eintritt. Wenn wir bei vermeintlich harmlosen, da gutbürgerlichen Aberglauben nicht in Harnisch kommen, stehen wir nackt und bloß dar, wenn die kruden Spießgesellen in unserem Vorgarten stehen. Wir müssen ein Stück des Burgfriedens aufgeben, um streitbar zu bleiben.