Moderate Vorschläge 

Ich fühl mich so neu. Ich versteh ja, wenn Leute vom hässlichen Deutschen reden. Bin ich aber nicht. Wir haben uns entwickelt. Deswegen können wir auch wieder zu unseren Traditionen stehen. Ich finde beispielsweise die Pickelhaube, den Zierrat preußischer Beamter, eigentlich ganz schön, auch wenn man die ja nicht mehr trägt, jedenfalls nicht offen. Aber so innerlich. Ich müsste mal meine Schädeldecke von innen abtasten. Könnte Ihnen vielleicht auch nicht schaden. Aber da hängt ja auch ganz viel Identität dran. Kleines Beispiel: Deutsche Beamte dürfen nicht streiken. Jetzt sagen Sie, Deutscher Sonderweg. Ich werde zeigen: Vorbild, Prototyp fürsorglicher Gemeinschaft!

Also Beamt*innen dürfen nicht streiken. Aber die bekommen ja auch was dafür. Das ist längst mehr als gesicherte Armut. Finden einige Beamte doof, die ziehen jetzt vor den europäischen Gerichtshof, petzen, nur weil die nicht dürfen, was doch eh nicht so zu ihrer Identität passt. Meine Meinung, ganz ohne Wertung! Dabei gab es ja schon ein Urteil von unserem eigenen Bundesverfassungsgericht. Das Streikverbot ist, wie uns unsere Mädels und Jungs aus Stuttgart lange vor der Klage beim EUGH erklärten, verfassungs- und menschenrechtskonform. Das Streikverbot weist eine enge Verbindung auf mit dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip, der Treuepflicht, dem Lebenszeitprinzip sowie dem Grundsatz der Regelung des beamtenrechtlichen Rechtsverhältnisses einschließlich der Besoldung durch den Gesetzgeber auf.* 

Auch diese Sprache - wörtlich zitiert - stiftet Identität bei mir. Juristendeutsch lässt alle vom Hipster bis zur Altachtundsechzigerin die Augen verdrehen. Mir geht dagegen das Herz auf! Alimentations- und Lebenszeitprinzip, rührend, Treuepflicht, beeindruckend! Diese eingehende, geradezu einfühlsame Erklärung erhebt das Beamtenrecht zu einem Prototypen unzähliger Rechtsformen.  Unser Staat ermöglicht uns, unsere Rechte gegen etwas Reelles einzutauschen: Für eine gute Besoldung, verschreiben sich deutsche Beamte einer Friedenspflicht auf Lebenszeit. Unsere Gesellschaft ist vom Beamtentum durchwoben. Von dieser Loyalität, der Fürsorge, der Pflichterfüllung! Was liegt näher, als den Tausch des Streikrechts gegen Privilegien  auf andere Gruppen zu übertragen? Einer jeden könnten wir  ihren ganz eigenen Tausch anbieten. All diese würden unsere Gesellschaft in ein Geflecht der Fürsorge und Treue verwandeln, in der jede und jeder seinen ganz eigenen Platz fände. Hier also meine bescheidenen Vorschläge: 

Ich beginne mit dem Status, den jede Frau frei wählen kann. Hausfrau! Als bloße Ehefrau trennt sie der Gendergap von ihrem Gatten, notdürftig ausgeglichen durch das Ehegattensplitting. Obwohl so wenigstens das Alimentationsprinzip gegenfinanziert ist. Die Ehefrau muss aber durch einen eigenen, ganz zu ihrer Rolle passenden Status gewürdigt werden. Ich fordere daher, dass den Frauen mit Eheschließung die Haushaltsgeräte von Staats wegen gestellt werden! Im Gegenzug übertragen sie ihr Wahlrecht an den Gatten. Die Zurückhaltung der Frau im Politischen erscheint mir hergebracht, fügt sich harmonisch in unser Brauchtum ein. Die politische Beteiligung der Frau wäre ja auch in der Treuepflicht ihres Mannes gut aufgehoben. Bei einem wohl bereiteten Abendessen vor einer Wahl könnte sie dem Gatten ihre politischen Vorlieben erläutern. Der liebende Gatte wägt diese gegen die wohlverstandenen Interessen seiner Frau ab, tritt an die Wahlurne, wo er dann eine freie Gewissensentscheidung trifft. Da ich bei einer solchen in der gegenseitigen Fürsorge erblühenden Ehe vom Lebenszeitprinzip ausgehen mag, umfassen seine Entscheidungen bald einen tiefen Blick in ihre Seele. 

Wenn Sie nun verstanden haben, wie leicht und gewinnbringend die Loyalität des Beamten auf andere Verhältnisse übertragen werden kann, können wir den Blick weiten: Da in unserer offenen Gesellschaft Diversität zum Wert aufgestiegen ist, sollten wir  uns ähnliche Loyalitätsverhältnisse auch gegenüber anderen Gruppen überlegen. So könnte man Mitgliedern marginalisierter Gruppen mit Nachdruck anbieten, ihr Demonstrationsrecht gegen die Subventionierung ästhetischer Identitätskennzeichen einzutauschen. Federboa statt CSD. Somit würde ja schon ihr bloßes Auftreten in unseren alltäglichen Lebenswelten zur Demonstration, die die Mitglieder der Leitkultur in all ihre politischen Äußerungen einbeziehen könnten. Sie übernehmen die schwere Aufgabe der politischen Meinungsäußerung für ihre marginalisierten Mitbürger*innen. Diese erhalten einen Platz in unserer Gemeinschaft, den sie sich in einer allzu offenen Gesellschaft fortwährend erkämpfen müssen. Wäre solch ein Friede denn kein schönes Geschenk?

Alle Grundrechte auf ihr Potential gemeinschaftsstiftenden Tauschs zu untersuchen, würde den Rahmen meines kleinen Vortrags sprengen. Selbstredend müsste ich noch ähnliche Wohltaten für Einwanderer - Barbershop-Abo statt Einbürgerung - für Geflüchtete, religiöse Minderheiten und viele andere mehr ersinnen. Vielleicht sogar für CSU-Mitglieder. Da ist für so ungefähr jeden etwas vorstellbar. Mir schwant, mir mutet an, ich wage zu denken, dass wir nicht bei national garantierten Bürgerrechten stehen bleiben müssen, nicht stehen bleiben dürfen. Sind die Menschenrechte denn nichts wert? Und was einen Wert hat, kann doch wohl getauscht und gehandelt werden.  Wem solche Vorschläge frech vorkommen, soll mir lieber erklären, wofür der Ire gelobt wurde, der den Armen empfahl, ihre überzähligen Neugeborenen an den Fleischer zu verkaufen.* In dieser Richtung warten noch mannigfaltige Ideen auf ihre Formulierung! Und dabei nehme ich mich noch moderat aus. Ich bin, wie Sie eingestehen müssen, ein wahrhaftiger Menschenfreund. Ich will dem Menschen seine Handelsfreiheit wiedergeben!

Neben dem gestifteten Gewebe unzähliger Loyalitäten hat mein Modell aber auch eine positive Wirkung auf die Wirtschaft. Gerade in Zeiten heraufziehender, multipler Krisen bedeutet ihre Absicherung, die Lebensadern unserer Gemeinschaft zu hegen und zu pflegen. Die Verkäufer von Haushaltsgeräten, Federboas, die Barbershopinhaber und viele andere mehr erhielten eine von konjunkturellen Schwankungen unabhängige Einnahmequelle. Sie alle wüssten, wem sie diese jeweils zu danken haben, unseren lieben Minderheiten und unseren geliebten Frauen. Die genannten Gruppen würden also ihre politischen Rechte sowohl gegen verlässliche materielle Werte als auch gegen gesellschaftliche Anerkennung eintauschen, was ja wohl zusammengenommen gesellschaftlichen Status ausmacht. Von daher sind die Beamten, die nun vor den europäischen Gerichtshof gegangen sind, um ihr Streikrecht durchzusetzen, nicht nur einfache Querulanten. Nein, sie blockieren unsere Freiheit des Geistes. Die würde im deutschen Beamtenrecht einen supranationalen Prototypen gesellschaftlicher Verhältnisse erkennen, der der Übertragung auf mannigfaltige Gruppen harrt. All diese Gruppen wüssten dann um ihren Platz im großen Ganzen, was aus einer losen, nur von ökonomischen und politischen Interessen Einzelner getriebenen Gesellschaft eine wahre Gemeinschaft formen würde. Nur der Eigennutz pocht auf individuelle Rechte!

Wie reich sähe sich beispielsweise eine queere Einwanderin beschenkt, sobald sie als Beamtin in den Dienst unserer Nation träte? Und kurz darauf heiratet? Wir Unmarkierten nähmen die Bürde dieser Wohltaten gerne auf uns. Wir pochen dabei nicht auf den wohlverdienten Dank. Es wäre uns eine Freude und eine Ehre.  Die Beamten aber würden über all diese Kontrakte wachen, würden die Geschenke und Zuwendungen verwalten - jederzeit und ohne Auszeiten. Und aus all diesen Gründen sehe ich im Streikverbot kein Überbleibsel alter Zeiten, die wir, ginge es nach den Querulanten, überwinden sollten. Nein, das Streikverbot für Beamte ist zu bewahrendes Erbe, ist Hoffnung und Anfang! 

 

*https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/06/rs20180612_2bvr173812.html

 

**Jonathan Swift, A Modest Proposal: For Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen to Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick