Es gibt mindestens zwei typische Akteure, die das Prinzip Cui Bono zur Interpretation jüngerer Vergangenheit nutzen: Kühle Taktiker und neuerdings Verschwörungstheoretiker. Dem Taktiker ist der Zugriff auf die Schuldigen wichtiger als die Schonung der Unschuldigen. Als Prototypen können hier machiavellistische Adlige oder auch die Capos der Mafia gelten: Ihnen kam oder kommt es auf einen Toten mehr bei Präventivschlägen nicht an. Blöd wär nur, wenn der Gegner, nachdem er aus der Deckung zuschlug, aus falscher Vorsicht nicht unschädlich gemacht würde.

Ein ähnliches Verhältnis wie die genannten zum politischen Mord pflegen Verschwörungstheoretiker zum Rufmord an Funktionsträgern der politischen Gegner, von denen sie nicht genug imaginieren können. Neben den beiden Gruppen gibt es auch andere. Beispielsweise habe ich den Spruch schon in Sonntagskrimis gehört, wenn Kommissare den Kreis der Verdächtigen einzuschränken wollen. Das spart Steuergelder, solange gründliche Ermittlungen folgen. Bei Verschwörungstheoretikern folgt eher gründliches Fabulieren.
Cui bono ermöglicht aber noch eine ganz andere für eine gegen ständige argumentative Übermacht antretende Gemeinschaft strategisch relevante Interpretation. Ob mir etwas nützt, sollte sich jeder Taktiker vor der Tat, jeder Anführer vor der Operation fragen. Aber wenn man die Folgen zukünftiger Handlungen einschätzt, kann man sich eben irren. Das ist menschlich. Einer Gemeinschaft von Idioten bietet Cui Bono damit eine Möglichkeit des Recyclings missglückter politischer Aktionen. Zum Beispiel beim Sturm auf das Kapitol, mag sich der Anführer der Bewegung, namentlich Donald Trump, einen realpolitischen Nutzen mit dem Sturm ausgerechnet haben. Augenscheinlich konnte er von diesem auch seine Anhänger überzeugen. Ein Teil der Polizisten verteidigten das Kapitol mutig und effektiv, andere duldeten gesetzwidrige Aktionen augenfällig. Aus der Ferne kann man fast den Eindruck gewinnen: Es hätte womöglich klappen können und diese gewaltsame Aktion hätte für Trumps Sache und für alle mit ihm verwandten politischen Anführern einen gewaltigen Nutzen gehabt.
Nun ist der Sturm aufs Kapitol zur Erleichterung besonnener Demokraten aller Parteien gescheitert. Eine scheiternde Aktion schädigt natürlich insbesondere die für sie Verantwortlichen. Hier setzt nun die Dialektik a la Cui Bono an: Da die gescheiterte Aktion ihre tatsächlichen Anführer schädigt, müssen wohl andere für sie verantwortlich sein. Jemand hat diese Aktion inszeniert und Anhänger des ehrenwerten Anführers auf den Leim gelockt, um die ganze den eigentlichen Volkswillen repräsentierende Bewegung in Misskredit bringen. Ja, wer mag das wohl gewesen sein? Die richtige Antwort lautet hier, ach wie überraschend: Einer der politischen Gegner! Da die ohnehin alle unter einer Decke stecken, können wir uns eine weitere Beweisaufnahme sparen.
Diese Dialektik hat aber auch für folgende Operationen einen nicht zu unterschätzenden Nutzen. Populisten können nun Subalterne zu waghalsigen Aktionen anstiften. Diese und jene mögen wohl klappen. Aber wie zahlreich die Fehlschläge auch sein mögen, wenigstens liefern sie Material, das in die große Erzählung über die Verschwörung der politischen Feinde eingewoben werden kann. Diese Wiederverwertbarkeit dilettantischer Taktiken hat aber noch eine strategische Bedeutung: „Flood the zone with shit“ als mediale Strategie des globalen Rechtspopulismus erhält ein nachhaltiges Abwassermanagment, indem er Cui Bono zum Instrument der Geschichtsdeutung und -umdeutung erhebt. Mit der Scheiße, die sie heute bauen, fluten sie morgen kaum aufbereitet  die Öffentlichkeit. Die Idiotie wird durch das floating zur Strategie! Die Idioten beweisen darüber hinaus, dass sie auch Lügner sind, indem sie einander widersprechenden Aussagen applaudieren: Wir waren das nicht! Wir hatten recht! Wir würden das wieder tun! Wir bereuen nichts!
Der Cui-Bono-Rückwärts ist quasi die Dolchstoßlegende-Generale.
Aber ich werde wieder überheblich mit dem Risiko, den Gegner zu unterschätzen. Die Rechte ist sogar mehr als ein Gegner, da sie auf die Beseitigung demokratischer Institutionen und sogar auf die Beseitigung dieser oder jener Menschengruppen aus ist. Sie ist ein Feind. Die neuen Taktiken ermöglichen ihr zunehmend den Anschluss an die bürgerliche Mitte. Bei vielen politischen Debatten im Freundeskreis, der Familie oder dem Kollegium müssen wir inzwischen häufig rechte Strategien, darin enthaltene Behauptungen und rhetorische Figuren mitbearbeiten. Hierzu kleiden rechte Strategen ihre Taktiken in gute alte Gewänder des gesunden Menschenverstandes ein. Erst bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die alten Praktiken strategisch gewendet wurden. So auch bei der Verwendung des heuristischen Prinzips des Cui Bono zur Umdeutung jüngst misslungener Operationen. Wir müssen die Schläuche, mit denen die Rechte versucht, die Öffentlichkeit mit Scheiße zu fluten, da hin zurücklegen, wo das Zeug her kommt: In die Hinterzimmer der rechten Strategen. Verwüstete die Flut diese Arbeitsplätze, richtete sie viel Gutes an. Dafür müssen wir die Anschlüsse an den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft schonungslos aufdecken, notfalls in der eigenen Rhetorik eingestehen. Dann würden die Strategien der Rechten zunehmend selbstreferenzielle Spielchen. Let them float themselves with shit! Scheiße, wem Scheiße gebührt!
Trump kommt als Beispiel tatsächlich langsam in die Jahre. Aber er ist noch das große taktische Vorbild einer globalen Rechten, die Anschluss an die gesellschaftliche Mitte sucht, ohne ihren Extremismus zu verwässern. Die dazu dienlichen verschwörungstheoretischen Rhetoriken müssen wir aufdecken und an unseren Reden aufdecken lassen. Fragt zum Beispiel ein Freund mit hochgezogener Braue: „Cui bono?“ , sollten wir uns für die Einschränkung des Kreises der Verdächtigen bedanken und dann nach Beweisen fragen. Werde ich bei ähnlichen Denkfiguren ertappt, sollte ich deren Überarbeitung meinerseits dankbar aufnehmen. Wir verhelfen uns dadurch gegenseitig zu einer Art Diskurshygiene. Bei Strategien wie der dargestellten sollten wir uns nämlich ersteinmal fragen: „Cui bono?“