Was war zuerst da: Die Henne oder das Ei? Entschuldigung: Die Gemeinschaft oder die Identität? Ich meine, dass die Antwort auf diese Frage tatsächlich Rechte von linken Konzepten scheidet. Wohlgemerkt: Konzepte. Ein linker Aktivist kann durchaus dieses oder jenes rechte Konzept bejahen, linke Bewegungen können zeitweise solche mitführen. Wenn ich jemanden auf ein rechtes Konzept hinweise, bezeichne ich ihn nicht als Person als rechts. Ich relativiere aber auch nicht. Bei linkem Bekenntnis müssen rechte Konzepte überarbeitet werden. Offen gesagt: Links ist für mich ein Wert, dieser Essay also parteiisch.
Eine Auffassung von Gemeinschaft lautet vereinfacht: Diese und jene teilen eine relevante Eigenschaft miteinander und mit mir, also sind wir eine Gemeinschaft. Diese Eigenschaften können naturhaft aufgefasst werden: Wir haben alle helle Haut, blondes Haar etc. Indem man solche Eigenschaften clustert, erhält man den Phänotypus. Hierfür reicht aber auch jede andere Eigenschaft, die das Individuum nicht selbst herstellt, sondern von einer höheren Macht erhält. Als gottgegeben aufgefasst taugt hierzu sogar die Religionszugehörigkeit, obwohl Außenstehende meinen, man wähle und konstruiere den eigenen Glauben. Die haben ja keine Ahnung!
In dieser Auffassung hat die Identität den logischen Vorrang, da sich aus ihr die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gemeinschaft ergibt. Weiter noch: Die Gemeinschaft setzt die Existenz einer solchen relevanten Eigenschaft voraus, so dass diese schnell zum Fetisch wird. Die erste Schutzmaßnahme für den Fetisch ist ein Umkehrschluss: Teilt jemand die relevanten Eigenschaften nicht mit uns, gehört sie oder er offensichtlich nicht zu unserer Gemeinschaft. Dies begründet mindestens Modelle wie den Ethnopluralismus. Jeder soll in seiner Gemeinschaft und jede Gemeinschaft auf ihrem Gebiet bleiben. Da aber die Zugehörigkeit zu jener besonderen Gemeinschaft wertvoll ist, lassen sich mit ihr Ansprüche gegen Außenstehende und fremde Gemeinschaften formulieren. Die Bürde des weißen Mannes rechtfertigt so die Ausbeutung der Kolonien.
Nun können Gemeinschaften solche Ansprüche formulieren, bevor sie die Mittel zu ihrer Umsetzung haben. Selbst marginalisierte Gruppen können solche Wertehierarchien formulieren, womit diese allerdings keinen Deut plausibler sind als die der historischen Sieger. Francis Fukuyama hat neun Kulturkreise definiert, die sich in grundlegenden Glaubenssätzen unterscheiden sollen, so dass keine Vermittlung zwischen ihnen möglich sei. Allerdings kann sich jede Community als solches Kultürchen auffassen. Ihre immer weitergehende Segregation verniedlicht zwar ihre Expansions- und Dominanzansprüche, erschwert aber in Summe den allgemeinen Diskurs.
Seltsamerweise braucht es in der Realität mannigfaltige Maßnahmen, um das skizzierte Gemeinschaftskonzept zu befestigen. So die Essenzialisierung, also die Überbetonung einer Eigenschaft zur Identitätsstiftung. Vor allem bist du ein Weißer. Alles weitere ist nachrangig. Die Ausschließlichkeit: Ein echter Weißer tut dies nicht und ist das nicht. Die Amalgamierung: Als Weißer bist du notwendig Christ, als weißer, christlicher Mann Patriarch. Die praktische Notwendigkeit dieser Strategien weist allerdings schon auf die Mängel des gehegten Konzepts hin.
Die Mängel gehen aber über die üblichen Unschärfen von Theorien in der Anwendung hinaus. Tatsächlich ist die Suche nach gegebenen Gemeinsamkeiten zur Konstitution einer Gemeinschaft müßig. Ein Biologe z.B. wird Ihnen versichern, dass die Zahl der Eigenschaften, die Sie mit einem Leistenkrokodil gemein haben, die der Unterschiede bei weitem übersteigt. Ich hoffe inständig für Sie, dass Sie ggf. den gemeinschaftsbildenden Wert dieser Tatsache dem Reptil begreiflich machen können. Im Alltag ergibt so auch die spontane Behauptung von Gemeinsamkeiten einen Sinn.
Als eine ältere Dame im Radio von Übergriffen auf Geflüchtete hörte, sagte sie lapidar: „Die werfen halt Steine nach uns.“ Die Eigenschaft, die sie aus ihrer eigenen Biografie heranzog, war hier das Erleben von Anfeindungen als Geflüchtete. Der für die Logik identitärer Gemeinschaften empfindliche Schlag ist, dass die Identifikation der gemeinschaftsstiftenden Eigenschaft einen schöpferischer Akt durch das Individuum darstellt. Zu dieser Kreativität sind wir begabt, Zugehörigkeit begehren wir - beides in einem Maß, das die Vereinnahmung durch eine Gemeinschaft bei den meisten Subjekten nur desolat gelingen lässt. Ständig gründen, pflegen und hegen wir Gemeinschaften unterschiedlicher Dauerhaftigkeit , ganz ohne Auftrag durch irgendeine Autorität. Selbst Individuen, die sich zwangsneurotisch einer exklusiven Community verschreiben, erleben allzu oft die Rückkehr des Verdrängten. Ein Schelm, wem hier erotische Bilder aufblitzen!
Wenn aber alle zur Gemeinschaftsdefinition taugenden Eigenheiten und deren Auswahl Nebenprodukte von Vergesellschaftungsprozessen sind, sind vor allem die Struktur der jeweiligen Gemeinschaft als auch ihre Geschichte interessant. Von beidem sind ihre Zulassungskriterien allenfalls Unterpunkte. Die Identität folgt aus der Vergemeinschaftung. Jede Gemeinschaft kennzeichnet sich durch ihre Organisationsform, die wiederum der gegenseitigen Fürsorge oder der Herrschaft und Ausbeutung dienen kann. Der Anspruch auf angemessene Fürsorge erhebt einen Außenstehenden zum Gemeinschaftsmitglied. Die Näherin meines T-Shirts z.B. kann mit allem Recht die gleichen Forderungen an den deutschen Rechtsstaat stellen, wie dieser es mir oder der Modefirma es schon ermöglicht. Momentan ist unser Verhältnis aber eins der verschleierten Herrschaft. Alle Beteiligten sind verpflichtet, den Ausgebeuteten die Emanzipation davon zu ermöglichen.
Gemeinschaften sind durch ihre Funktionen für ihre Mitglieder besser beschrieben als durch deren Eigenschaften. Das Individuum gehört allermeist einer Vielzahl solcher Gemeinschaften an, wodurch ihm ermöglicht wird, deren Verfassungen, deren Organisationsformen zu vergleichen. Daraus folgen zwei Aufgaben: Wir müssen immer wieder überprüfen, welche Außenstehenden Anspruch auf die Solidarität unserer Gemeinschaft haben. Sie gehören dazu, auch wenn wir das bislang übersahen. Wir müssen auch überprüfen, ob unsere Gemeinschaft ihre Funktionen vollumfänglich erfüllt. Insbesondere heißt dies, die aktuelle Organisation auf Herrschaft zu überprüfen und diese aufzuheben. Stellt sich jemand fortwährend diesen Aufgaben, erwirbt er sich eine moralische Integrität, die mehr wiegt als alle seine Schrullen und Eigenheiten, die ganze Identität zusammen.
Kleines Geständnis: Offenbare Gemeinsamkeiten erleichtern die Vergesellschaftung. Wenn ein mittelprächtig Beleibter im Freibad vom Fünfer eine Bombe hinlegt, kann er sich meines konspirativen Grinsens sicher sein, sobald er auftaucht. Momentan habe ich eben diese Hautfarbe, Weltanschauung, Schuhgröße, Wohnort, Herkunft, Einkommen, sexuelle Orientierung, Sprache, Lieblingsspeise ... All diese Eigenheiten erleichtern jeweils Gespräche zur Vergemeinschaftung. Irgendeine findet sich, sobald mir der Sinn danach steht, allerdings immer. Also kaschiert die herangezogene Gemeinsamkeit das Motiv der Vergesellschaftung gegenüber moralischer Kritik. Linke Konzepte betonen die moralischen Ansprüche an die Verfassung der so entstehenden Gemeinschaften, rechte ihre Zulassungskriterien. Die rechte Katze beißt sich notwendig in den eigenen Schwanz, rechte Ideologien sind nicht vielmehr als Aufrufe zur Inzucht und zu deren gewaltsamer Verteidigung.
Allerdings halte ich das oben hin- und hergewälzte Identitätskonzept auch dann für rechts, wenn linke, marginalisierte, ja von rechter Gewalt selbst betroffene Gruppen es nutzen. Auch die Übernahme der Kriterien der eigenen Ausgemeindung als komplementäre Gemeinschaftsdefinition erscheint mir eben darum als schwerer strategischer Fehler. Ich hoffe die Epidemie der Identifiziererei bringt, nachdem sich Communities, Gemeinschaften und Kultürchen in ihrer Zersplitterung aneinander abgearbeitet haben, ihre eigenen Impfstoffe hervor. Der wichtigste ist wohl die Fähigkeit, die Marotten der Emanzipation und Fürsorge zu erkennen, um sich mit ihrem Eigner - so fremd er sonst sein mag - zu identifizieren. Wir sollten eben seine Integrität und uns mit ihr identifizieren. Ach und übrigens: Die Henne war zuerst da. Wenn jemand das anders sieht, rede ich erst gar nicht mit ihr oder ihm, basta!