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Genom des Westens

 

Zur Zeit gehen die politisch Verantwortlichen von gestern und vorgestern gerne in Interviews und Talkrunden, um zu verdutzt beteuern, sie hätten das nicht kommen sehen. Manche von ihnen geben vorsichtshalber zu, man hätte es kommen sehen müssen.
Allerdings sei dieser Aggressor allen Kindern des liberalen Westens so wesensfremd, dass sie selbst als eines von ihnen eben gar nicht begreifen konnten, wie der so denkt. Ja, wir fragen uns die ganze Zeit ganz verzweifelt, was denkt denn der Herr Putin denn so …
Dieses der Öffentlichkeit dargebotene Unwissen, diese demokratische Unschuld vom Lande ist zur Zeit die verlogenste Pose, die langjährige politische Profis und global agierende Unternehmer darbieten können. Für beide bietet die Außengrenze des demokratischen Staates die Gelegenheit um auszulagern, was man weder Bürgern, noch Kunden, ja nicht einmal inländischen Arbeitnehmern zumuten will.
Fangen wir mit der Schizophrenie demokratischer Wohlstandsnationen an. Ein demokratischer Diskurs hat auf lange Sicht - wie Entwicklungspsychologen seit Kohlberg nachweisen - ein lästiges Nebenprodukt: Moralische Grundsätze. Spätestens nach weithin sichtbaren Katastrophen- von Tschernobyl bis Fukushima beispielsweise - kommen allzu viele Bürger zu dem Schluss, dass man die inländischen Atomkraftwerke möglichst bald abschalten sollte. Klima oder Kohle? Kluge Parlamentarier ahnen solche Stimmungen gar voraus. Dann können sie sich aber auch an den Fingern abzählen, welche wahlkämpferischen Unwägbarkeiten eine inländische Umstrukturierung der Energieversorgung mit sich bringen würde. Ein ausländischer Energielieferant ist die Lösung. Mit russischem Gas kann man Wähler sedieren und den Energiemarkt entspannen. Ängstliche Demokraten können das Böse inländisch canceln, um fortan seine Früchte importieren zu lassen. Dass die Gaslieferung von einem Autokraten verbürgt wird, ist mittelfristig von Vorteil, da Wirtschaftsminister und Kanzler*in dann einen Grossisten haben. Da man so dem Konsumenten geben kann, was dem Bürger missfällt, bekommen Außen- und Wirtschaftsminister im Kontakt zu Despoten schnell den Gesichtsausdruck kopulierender Fruchtfliegen.
Dies ist keine exotische Verschwörungstheorie, da nicht nur unsere liberalen Vorbilder USA und Großbritannien diese Übung mit unzähligen Despoten vorgeturnt haben, ob sie diese nun gehätschelt oder eigens eingesetzt haben. Ein später noch wichtiges Beispiel ist Pinochet. Es gibt zwei wesentliche Unterschiede: Erstens sind sowohl England als auch die USA durch Meere oder zumindest schmale Landbrücken von jenen Autokratien getrennt, deren Nutznießer sie sind. Wird der Despot frech, kann man ihn demontieren, ohne für die womöglich ausgelösten Flüchtlingsströme Verantwortung übernehmen zu müssen. Meere sind noch besser als Mauern. Blöd nur, wenn man mit den Staaten jenseits des Kanals zu einem Staatenbund gehört. Aber das lässt sich ja bei Bedarf ändern. Zweitens waren die Diktaturen, die Hoflieferanten für Rohstoffe und Reservate der Ausbeutung für die leuchtenden Demokratien spielten, allermeist so klein, dass Angloamerika sie im Handstreich stürzen konnte, auch wenn dabei eine Region dauerhaft destabilisiert wurde.
Amerika und Europa haben zwei Ausnahmen von dieser goldenen Regel zugelassen: China und Russland. Da die demokratischen Herren den diensthabenden Diktator nicht liquidieren können, mussten sie ihrem Wahlvolk eine andere Lösung des Widerspruchs in Aussicht stellen. Russland wie China sind „To big to blast“. Also erzählten uns unsere Volksvertreter lange das Märchen vom Wandel durch Handel. Wie absurd eine Theorie ist, die behauptet, Geschäftemacherei würde demokratisieren, ist einen eigenen Artikel wert. Hier ist erst einmal wichtig, dass die politischen Eliten Russlands und Chinas und eben auch unsere um diesem besonderen Status längst wissen. Die politischen Profis der Demokratien müssen den Schachzügen der beiden inzwischen zusehen wie Biedermann den Brandstiftern. Soll sich doch die nächste Regierung an der Entwirrung des Knotens die Finger verrenken, war wohl lange die Devise.
Politische Profis sollten nicht frech behaupten, von diesem Spiel nichts zu wissen, da es lange Tradition mit wechselnden Partnern hat. Die westlichen Demokratien haben immer schon eine heimliche Liebe zur Apartheid, eingesetzten Scheichen und zum himmlischen Frieden gehegt. Sie alle ermöglichten, Projekte zu verwirklichen, die zuhause zur politischen Ächtung geführt hätten. Jede Demokratie des Westens hatte und hat da so ihre Lieblingsdiktaturen. Und die großen Diktaturen liebten sie alle gemeinsam. Vielleicht ist diese Doppelmoral das eigentliche politische Genom des Westens. Stubenrein. Wer will nicht stolz auf diese genetische Disposition sein?
Aber auch die Unternehmer transnational handelnder Firmen kämpfen mit einem Grundwiderspruch: Sie hätten gerne für ihre Firma nebst dem Kapital der Shareholder Rechtssicherheit. Rechtssicherheit für Arbeiter und Angestellte ist allerdings eine lästige Begrenzung unternehmerischer Freiheit. Auch kann man mit Diktatoren in fröhlicher Wissenschaft Wirtschaftsmodelle am lebenden Objekt ausprobieren: So etwa den radikalen Neoliberalismus eines Friedrich Hayek mit freundlicher Unterstützung Pinochets am chilenischen Volk als Schülerprojekt der Chicago School of Economics.
Über den Prototypen Pinochet führten unter anderem deutsche Unternehmer mit Putin geistreiche Unterhaltungen, von denen leider nur die Anfänge gefilmt wurden. Sie - wie ihre ausländischen Kollegen auch - wussten nicht nur um die Wahlverwandtschaft Putins zu Pinochet. Traditionell befürworten sie solche politischen Systeme als Rückzugsräume unternehmerischer Freiheit. Milton Friedman, der große Liberale, sah gar in der Diktatur die ideale Staatsform, um wirtschaftliche Freiheit zu garantieren. Dieser sogenannte Liberalismus ist die Ideologie eines Unternehmertums, das gerne daheim in der Demokratie seine Dividende der Diktaturen verzehrt. Gleichzeitig hilft dieses Unternehmertum der professionellen Politik - wie Noam Chomsky sagt - aus Bürgern Konsumenten zu machen. Bürger bleiben in Wahldemokratien der unwägbare Faktor politischer Karrieren. Politiker, die sich scheuen, vor den nächsten Wahlen Klartext über notwendige Entwicklungen zu sprechen und Unternehmer, die für sich einen anderen Rechtstatus fordern als für ihre Arbeitskräfte, präferieren also ein ähnliches Modell: Eine Nachtwächterdemokratie zuhause, die schmutzige Geschäfte in willfährige Diktaturen auslagert.
Der bösartige Überfall Russlands auf die Ukraine in unserer direkten Nachbarschaft führt uns die Risiken der unheiligen Allianz zwischen lavierenden Politikern und amoralischen Unternehmern drastisch vor Augen. Eine im Sinne der anstehenden Wahlergebnisse optimierte Politik ist nurmehr inadäquate Ersatzhandlung der Demokratie. Eine Wirtschaftsform, die sich notwendig von Diktatoren und Ausbeutern beliefern lässt, nur der Untote des freien Marktes. Putin ist aber weder aus der Sicht westlicher Politiker, noch aus der des sogenannten freien Unternehmertums der fremde Schurke aus dem Osten. Er ist für beide ein mittlerweile renitenter Kollege. Das Modell der politischen wie unternehmerischen Schizophrenie, das Genom des Westens, stößt in seinen Kooperationspartnern, die to big to blast sind, vielleicht das erste Mal an prinzipielle Grenzen. Diese Krisen kann der Westen nur bestehen, wenn seine Völker eine tiefgreifende Reform von Wirtschaft und Politik einfordern, die uns das Outsourcen unmoralischer wie antidemokratischer Projekte ein für alle Mal versagt. Diese überfällige Zeitenwende westlicher Politik wird bestimmt nicht die Diktatoren dieser Welt augenblicklich ihres Amtes entheben. Sie stünden dann aber ohne ihren finanzkräftigsten Kooperationspartner da, was den Weg der Völker zur Demokratie von manch einem Hindernis befreien dürfte. Die Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigt einen unwillkürlichen Paradigmenwechsel im Angesicht diktatorischer Expansion, blanker Gewalt. Ich hoffe vor allem, dass diese Gewalt bald abbricht. Wir haben die Verantwortung, den eigentlichen Paradigmenwechsel von Politik und Wirtschaft auch nach einem Kriegsende in der Ukraine voranzutreiben. Unsere Doppelmoral wird sonst weltweit auch in Friedenszeiten Opfer fordern. Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Westens, müssen uns dieser Verantwortung nachhaltig und schonungslos stellen. Wir können jedenfalls nicht alle so verdutzt dreinschauen wie unsere Eliten.

 

 

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