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Pleonasmoid

 

Alles gut. Keine Bildungslücke. Das Wort gibt‘s gar nicht. Falls aber doch jemand auf diese Wortschöpfung kommen sollte, hülfe folgende Grammatikstunde:

Grundwort Pleonasmus. Der liegt vor, wenn ein Substantiv durch ein Adjektiv näher beschrieben wird, das keinen Bedeutungszuwachs bringt. Weißer Schimmel ist das klassische Schulbeispiel. Ein Pleonasmus hebt einen bestimmten Aspekt als äußerst bedeutsam hervor: Liberale Demokratie, z.B., da weiß man gleich: In der Demokratie, da sind wir frei und ohne sie nicht. Und wenn jemand das eine angreift, hat er’s auch auf das andere abgesehen. Das vereinfacht die Verhältnisse! Politik als die Organisation des Freund-Feind-Schemas.
Da deutet sich schon an, dass der Pleonasmus rhetorisch die Reihen schließen kann. Du musst dich entscheiden, ob du für das liberale Erbe annimmst und für die Demokratie eintrittst. Mit denen, die das ein oder andere angreifen, haben wir nichts gemein. Das sind entweder Vorgestrige oder verkappte Stalinisten. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern.
Redlicherweise muss ich auf eine mögliche Nebenwirkung hinweisen: Das Wortgefüge fordert kreative Köpfe heraus. So kann ein Victor Orban von illibertärer Demokratie sprechen. Manch einer wird dem Victor jetzt vorhalten, er hätte den Pleonasmus nicht verstanden. Aber da tut ihr ihm Unrecht. Er hat die rhetorische Figur ganz artig ausgenutzt! Nun gehört er zur demokratischen Völkerfamilie, aber liberal oder gar libertär muss er scheinbar nicht zu sein. Da fährt die europäische Familie ganz gut damit!
Da müsste die FDP eingedenk der Staatsmodelle ihrer geistigen Väter Hayek und Friedman eine andere Paarung anbieten: Liberale Diktatur oder vielleicht vorerst Liberale Oligarchie. Die genannten liberalen Säulenheiligen wussten nämlich, dass allein die Diktatur den Markt schön frei macht! Und schon hätten wir die Liberale Demokratie eingerahmt wie im Kreuzreim! Orban hier, Hayek dort. Zwinkersmiley! Dann muss man auch nicht mehr alles so eng sehen. Die einen mögen’s halt etwas liberaler, die anderen etwas weniger demokratisch.
Nun kommt, was dem alten Grammatiklehrer Kopfzerbrechen bereitet: Was ist, wenn das Adjektiv doch, sozusagen heimlich eine ganz andere Bedeutung hat, wie das näher bestimmte Substantiv? Was, wenn wir entdecken, dass gar nicht alle Weißen Schimmel sind? Ich schlage vor ein Wortgefüge, dessen Adjektiv nur auf den ersten Blick so klingt, als bedeutete es eben dasselbe wie das Substantiv selbst, aber eigentlich was ganz anderes, also beim näheren Hinsehen wirklich total  was anderes bedeutet, als wir erst … also dass wir das dann ein Pleonasmoid, also einen scheinbaren Pleonasmus nennen.
Seiner Wortherkunft nach bedeutet liberal frei. Wenn wir darunter aber die politischen Eigenheiten der sogenannten Liberalen verstehen, sollten wir uns zum Ergründen der Wortbedeutung deren Geschichte anschauen. Immerhin ist die FDP nach eigener Aussage die einzige Freiheitspartei Deutschlands. Liberal hießen in den Anfängen Akteure die eine Aussöhnung revolutionärer Bewegungen mit der überkommenen Gesellschaftsordnung forderten, nicht zuletzt um ihre darin enthaltenen Privilegien zu retten. Damals meinten sie also mit Freiheit den Handlungsspielraum einer spezifischen Gruppe. Das Großbürgertum entdeckte schnell die Vielzahl der gemeinsamen Interessen mit diesen liberalen Adligen. In Frankreich schaffte diese Koalition aus der Revolution ein gesellschaftliches System zu erschaffen, in dem ihre Vertreter sich freier bereichern konnten als irgendeine Kaste zuvor - auf Kosten eben des Pöbels, der die Revolution durchgeführt hatte.
Die Whigs in England waren vor allem eine Freihandelspartei. In Ermangelung einer Alternative wurden sie auch von Kleinbürgerlichen gewählt. Das entfiel mit dem Aufstreben der Labour. Gegenüber allgemeinem Wahlrecht verhielten sie sich immer äußerst taktisch. Man konnte die Tories damit bedrohen, sägte damit aber auch immer etwas am eigenen Ast. Mit der europaweiten Ausbreitung des allgemeinen Wahlrechts schrumpften die Liberalen ungefähr auf Stimmenanteile, die dem Bevölkerungsanteil der von ihnen vertretenen Interessengruppen entsprechen. Damit konnten sich die Liberalen in den besten Fällen als demokratische Königsmacher anbiedern.
Wenn man aber weiß, dass man als einzige politische Bewegung s.o. den wichtigsten moralischen Grundsatz demokratischer Politik vertritt, aber allenfalls als Juniorpartner herhalten darf, kann man schon zu den Ansichten eines Friedrich Hayek, dem wichtigsten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts kommen. Er träumte von einer Oligarchie, die aus den Reihen altgedienter Unternehmer die Regierung wählte. Zufällig also aus der Gruppe, die die sogenannten Liberalen damals wie heute vertreten. Milton Friedman radikalisierte diese Haltung, indem er sinnierte, die Diktatur sei die ideale Staatsform, um den freien Handel zu schützen.
In diesem Sinne kooperieren Liberale und liberal gesonnene Unternehmer mit Vorliebe mit Diktatoren von Pinochet bis Putin. Sie engagieren sich dafür, ein Gleichgewicht zwischen unternehmerischer Freiheit und demokratischen Rechten auszuhandeln. Konsequenter wieder der amerikanische Ableger eines Lewis F. Powell: Er warnte in den Sechzigern die Eliten, ihnen könnte die Kontrolle über die sich radikal demokratisierende Gesellschaft entgleiten. Um dies zu verhindern müsste man alle wichtigen gesellschaftlichen Akteure gezielt indoktrinieren.
Bestünde die liberale Internationale aus Schweinen, lautete ihr Wahlspruch wohl: „Alle Tiere sind frei, aber manche sind freier als andere!“ Wenigstens mal kein Paradox, aber die Figur nehmen wir ein andermal durch. Nun sollte man meinen, die sogenannten Liberalen müssten sich in einem absehbaren Rückzugsgefecht befinden, wo doch schon ihr Name eine Propagandalüge darstellt. Trotzdem gibt es dann einen Neoliberalismus nach dem anderen. Wer ermöglicht diesen im besten Fall lauwarmen Demokraten ihre Wiederauferstehungen in Serie?
Die Bürger der Wohlstandsnationen, so auch ich, sobald ich eins und zwei zusammenzähle, sind von einer Angst umgetrieben: Was würde es mich kosten, wenn wir beginnen würden, den globalen Handel gerecht zu organisieren, weltweiter Freizügigkeit stattgeben, Reparationen für koloniales Unrecht zu zahlen  … Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Schon innenpolitisch zweifelt ein Bildungsbürger schnell, was mit seinenr Komfortzonen geschähe, wenn das Prekariat ganz real eben die Rechte bekäme, die er so selbstverständlich genießt. In moralischen Debatten, die von realen Verhältnissen generös abstrahieren, legen seine Vertreter beispielsweise fest, Schwarzfahren hart zu bestrafen. Und dafür koalieren wir dann halt mit denen, die freier sein wollen als die anderen.
Die Krisen, die sich aus den liberalen Schweinereien ergeben, sind aber bei weitem gefährlicher als ein wenig Arbeitsmigration oder Wohlfahrtsstaat. Ein entlaufener Helfeshelfer der Liberalen führt gerade Krieg hinter der übernächsten Grenze. Nutznießer liberaler Wirtschaftspolitik verursachten einen Börsenkrach, dessen Folgen einen Rechten ins Weiße Haus brachten. Ist in Deutschland nach einer Phase der Deregulierung schon mal ähnlich gelaufen. Neoliberal haben wir bislang die notwendige Energiewende aufgeschoben. All diese Suppen auslöffeln zu müssen, entwertet unsere bürgerlichen Freiheiten eine nach der anderen.
Ein Pleonasmoid ist also ein Wortgefüge, in dem das Adjektiv auf den ersten Blick das Gleiche meint, wie das Substantiv, auf den zweiten aber das glatte Gegenteil. Oxymoron undercover. Schulbeispiel: Liberale Demokratie. Und wenn ein sogenannter Liberaler uns wieder einmal seine spitzfindigen Relativierungen unterjubeln will, könnten wir erwidern: „Sehr geehrter Pleonasmoid, bitte sprechen Sie offen, anstatt zu grunzen. Ich werd übrigens von Demokratie sprechen und von Freiheit. Erst ohne Zusatz entfalten diese Worte ihre ganze Würde. Diese werde ich übrigens gegenüber Ihren Verballhornungen verteidigen, sehr geehrter Pleonasmoid.“

 

 

 

 

 

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