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Demokratische Drift

Demokratische Drift

Die Enthüllungen des geheimen Treffen von Rechtsextremisten und ihren Sympathisanten durch das Medienhaus Correktiv empören breite Bevölkerungsschichten endlich ausreichend, um lang anhaltende Demonstrationen zu ermöglichen. Dort wird “Ganz Berlin- hasst die AfD” skandiert. Und noch währenddessen äußern Teilnehmer*innen ihre Bedenken gegenüber der Vokabel hassen. Für mich bedeutet Hass den Impuls, dass das Gehasste in meiner Welt nicht sein soll, ein verwirklichter Unwert sei. So verbietet sich der Hass auf Menschen von selbst. Unabhängig davon kann ich aber Organisationen, insbesondere Parteien hassen. Selbst wenn die AfD aus unserer sozialen Realität beispielsweise durch ihr Verbot getilgt wird, können ihre bisherigen Mitglieder unbeschadet weiterleben. Das Verbot der Partei Ruft dann auch Kommentatoren auf den Plan, die einfordern, man müsse rechte Meinungen im demokratischen Diskurs aushalten, da Demokratie weder Links noch Rechts sei. Ganz abstrakt besehen haben sie recht - man muss bloß von allen gesellschaftlichen Realitäten und geschichtlichen Erfahrungen absehen. Mir drängt sich dagegen der Eindruck auf, dass Demokratie eine Regierungsform sei, deren Kurs mehr oder weniger links ausfallen müsste. Das ist sozusagen die demokratische Drift. Wenn nichts faul ist im Staate! 

Insbesondere vor Einführung der Demokratie sind Gesellschaften von Ungleichheit geprägt, aber auch weiterhin durch ihre kapitalistische Wirtschaftsform. Sind Einkommen und Vermögen ungleich verteilt, haben die Menschen, die in beiden Fällen unter dem Durchschnitt angesiedelt sind, die Mehrheit im Land. Das hat rein mathematische und leicht nachzuprüfende Gründe. Je größer die Ungleichheit, desto größer die Gruppe der unterdurchschnittlich Begünstigten. In einer repräsentativen Demokratie müssten also deren Interessen den parlamentarischen Prozess weitgehend bestimmen, was entfernt an die Diktatur des Proletariats erinnert, jedenfalls vor der bolschewistischen Umdeutung des Begriffs. Aber in einer Parteiendemokratie müssten die Interessen dieser unterprivilegierten Mehrheit nicht durchgehend durch eine Partei vertreten werden. Je nachdem, inwiefern das Programm einer Partei diese Interessen ausformuliert, kann mal diese mal jene als der Anwalt der kleinen Leute fungieren. Ist die Situation der Massen unerträglich und die Ungleichheit skandalös, droht die Revolution. Sonst zeigt sich der Gang der Geschichte eher als Reigen von Reform  zu Reförmchen. Die sozio-ökonomische Schere müsste sich allmählich schließen.

Ähnliches gilt für politische Macht. Ein Machtgefälle zieht gezwungenermaßen die zahlenmäßige Überlegenheit der ihrem Einfluss nach Benachteiligten nach sich. Damit müsste Demokratie in der Emanzipation dieser Mehrheit ein Gemeinschaftsprojekt sehen. Auch dies könnte wieder von wechselnden Akteuren umgesetzt werden. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen sind vom Ausschluss aus politischem Einfluss unterschiedlich betroffen, so dass hier mal dieses, mal jenes Thema die Tagesordnung bestimmen könnte. Selbst die Degradierung kleiner Gruppen müsste Demokrat*innen unerträglich erscheinen, da ihr spezifisches Wissen in demokratischen Prozessen gebraucht wird.

Alle, die die Jahrzehnte nach Reagan und Thatcher erlebt haben, die neoliberalen Jahrzehnte nach der deutschen Einigung, werden einwenden: Moment mal, die Schere hat sich nicht geschlossen. Sie öffnet sich stetig. In Westeuropa vielleicht langsamer als anderswo. Global aber in einer politisch bedrohlichen Rasanz. Auch um Gleichberechtigung bezüglich des politischen Einflusses zeigt der Trend in eine merkwürdige Richtung. Umfragen unter Nichtwähler*innen offenbaren eine skeptische Sicht auf die Integrität von Parlamentariern. Gerade Bildungsbürger*innen tun das gerne als billige Protesthaltung und mangelhaftes Demokratieverständnis ab. Wir treffen uns dann gerne auf subventionierten Proklamationen demokratischer Werte. Politologen dagegen diagnostizieren zunehmend eine Entfremdung zwischen Wahlberechtigten und ihren gewählten Vertreter*innen. Sie bestätigen also die  Skepsis der Nichtwähler. 

Wie kann das sein? Die Arithmetik legt so sehr ein linkes Grundsatzprogramm demokratischer Gesellschaften nahe, dass für sein Gegenteil, die Entwicklung zu zunehmender Ungleichheit und die schleichende Konzentration politischer Macht historisch besondere Gründe geben muss. Sozialforscher  diagnostizieren gar eine zunehmend geräuschlos laufende Drehtüre zwischen Macht und Geld. Wenn das Modell der Demokratie, das wir gerade fahren, der plausiblen Richtung so entläuft, sollten man sich fragen, wie es dazu kam. Aber auch die Frage, was daraus folgt, gewinnt an Brisanz. Bewegt sich unser Gemeinwesen auf disparate Lebensverhältnisse zu, müssen wir uns über den Aufstieg polarisierenden Populisten nicht mehr wundern. Nicht einmal über deren optimistisches Selbstverständnis. Wenn wir alles so weiterlaufen lassen wie die letzten Jahre, wird der Optimismus der Rechten realistischer und realistischer. 

Gesellschaftliche Gruppen, die Privilegien schon vereinnahmt haben, organisieren sich, um diese zu verteidigen. Sie gegen den naturhaften Gang der Demokratie zu verteidigen, braucht es ein gutes propagandistisches Arsenal. Den Grundstein bildet die Mär, Umverteilung, in Amtsdeutsch die Angleichung der Lebensverhältnisse, und das notwendige Wirtschaftswachstum würden sich zuwiderlaufen. Dafür gibt es keinen historischen Nachweis. Die Weltwirtschaftskrise der Zwanziger beweist dagegen, dass Ungleichheit Wirtschaften für Krisen anfälliger macht. Habe ich die Mär wider die Umverteilung geschluckt, bedrohen mich alle Ansprüche derer, die ich in der sozialen Hierarchie unter mir ansiedle. In Wohlstandsnationen bedeutet dies unter anderem: Migranten, insbesondere die mittellosen, und die, die in der Ferne Migration ins Auge fassen. Da das Eingeständnis von Neidreflexen meine Selbstachtung beschädigen würde, brauche ich alternative Erklärungen für mein Ressentiment. Überfremdung, schleichender Identitätsverlust oder gar Umvolkung müssen doch wohl abgewehrt werden. Das wird man doch noch mal sagen dürfen! 

Ein weiterer Grund leitet sich aus einer zunehmenden Wachstumsskepsis her. Es scheint nicht nur fraglich, ob wir uns in ökologischer Hinsicht grenzenloses Wachstum leisten können. Ob wir es benötigen, ob es uns einen ebenso grenzenlosen Zuwachs an Glück und Zufriedenheit beschert, scheint in einer Welt, deren Durchschnittsbürger Übergewicht aufweisen, ebenso fraglich. Eigentlich müsste das wenigstens bei Wohlhabenden tiefe Gelassenheit auslösen. Die Aussicht, dass der Kuchen sein Wachstum  einstellen könnte, verschärft die Frage nach der Verteilung des Kuchens. Auf die gibt es grundsätzlich zwei Antworten: Da offensichtlich genug für alle da ist, soll der Kuchen gerecht verteilt werden. Was unter dem Begriff gerecht verstanden werden soll, obliegt dann demokratischen Einigungsprozessen - mit ihrem sozial-integrativen Leitstern. Oder aber: Ich beanspruche vorsichtshalber das größte Stück. Im ersten Fall setze ich auf eine umfassende Solidarität, auch wenn diese unzählige Interessengegensätze bewältigen muss. Im zweiten Fall ist Solidarität nur eine taktische Notwendigkeit, der ihre Begrenzung schon eingeschrieben ist: Die Anzahl der Spießgesellen im Kampf um die Portionen darf diese nicht durch die Division der Beute ruinieren. Die zweite, die rechte Taktik leidet an einem Paradox: Weil es  uns so gut geht, dass weiteres Wachstum als gesellschaftliches Projekt an Verbindlichkeit einbüßt, kann Futterneid unsere Mentalität prägen.

Der libertäre Vorschlag ist, die Prügelei am Buffet durch minimale Regeln zu disziplinieren, einzuhegen. Dies ändert aber nichts daran, dass sich die Schere öffnet und die Interessengegensätze sich verschärfen. Der Neoliberalismus bereitet den Boden für die Ideologien des Kampfes, also für die politische Rechte. Selbst bürgerliche Parteien vermuten, sie könnten bei breiten Wählerschichten punkten, indem sie Abschiebung forcieren, Bürgergeldempfängern die Bezüge kürzen oder laut über das koalieren nach rechts nachdenken. Diese Ausfallschritte kann man an allen bürgerlichen Parteien beobachten. Die Konservativen scheinen hier aber von jeher am unbefangensten zu agieren.

Das erste Bündnis gegen die Brahmanisierung der Parlamente ist eine starke Zivilgesellschaft, die den demokratischen Auftrag auch zwischen den Wahlen reformuliert. Mindestens müssen die Sondierungsgespräche von Parlamentariern mit Extremisten in Hinterzimmern aufgedeckt und von breiten  Aktionsbündnissen gebrandmarkt werden. Dies geschieht mit den großen Demonstrationen nach den Enthüllungen des Correktiv Medienhauses über das Treffen des sogenannten Düsseldorfer Forums. So verdeutlichen wir wenigstens, worin der Auftrag nicht besteht. Zum Auftrag gehört gewiss auch, die durch Rassismus, Antisemitismus und anderen menschenfeindlichen Ideologien Bedrohten zu schützen. Diese Brandmauern sind notwendig, aber ebenso notdürftig. Die politischen Institutionen müssen nicht nur dem Brandschutz genügen. 

Langfristig müssen wir überlegen, wie die politischen Institutionen, zuvorderst die Parlamente so umgestaltet werden können, dass sie sich nicht gegenüber ihrem gesellschaftlichen Auftrag abschotten können. Wie können Parlamente offen für alle gesellschaftlichen Gruppen werden. Dabei sollten wir auch originelle Ideen, die im bisherigen Verständnis des Parlamentarismus nicht enthalten waren, mitdenken. Vieles kann man auch von anderen parlamentarischen Demokratien abkupfern. So die Begrenzung der Amtszeiten nach amerikanischem Vorbild. Bei Bezirksbürgermeister*innen sehe ich hier keine Notwendigkeit, bei Bundeskanzler*innen allemal. Eine Staffelung der Begrenzung böte sich an. Weiterhin finde ich es plausibel, den Nichtwählern politisches Gewicht zu verleihen. Der Anteil der Stimmenthaltungen könnte in Parlamenten durch aus den Melderegistern ausgelosten Abgeordneten besetzt werden. Erhalten diese volle Bezüge, stellt diese Aufgabe ein Glückslos für alle dar, deren Einkommen sonst weit darunter liegt. Dies sind im Allgemeinen die, die keinen Zugang zur Drehtür der Funktionseliten haben. In ihrer politischen Arbeit würde ein individuelles Machtkalkül eine ungleich geringere Rolle spielen wie bei politischen Profis. So würden sich deren erfahrungsgesättigte Expertise mit der Unbefangenheit der Losabgeordneten sinnvoll ergänzen. Nichtwähler könnten sich nicht auf eine unreflektierte Systemkritik zurückziehen, könnten diese aber auch nicht generalisierend vorgehalten bekommen. 

Wenn solche und andere Maßnahmen umgesetzt würden, muss Demokratie wieder die Interessen der benachteiligten Mehrheiten in historisch wechselnden Konstellationen bearbeiten. Damit arbeitete sie jederzeit moderat links. In sozial gerechten Gesellschaften und Epochen moderater als in sozialen Krisen. Für besonders benachteiligte Gruppen leidenschaftlicher als für Gruppen mit weitgehendem Zugriff auf den gesellschaftlichen Wohlstand. Die demokratische Zivilgesellschaft muss aber schon wachsende Ungleichheit und Benachteiligung sozialer Gruppen als Warnsignal auffassen, dass was faul ist im Staate. Da unsere Institutionen alle dem demokratischen Anspruch nach arbeiten müssen, müssten sie alle Emanzipationsprozesse fördern und Ausgleich vorantreiben. In den Jahrzehnten nach Reagan und Thatcher haben viele von  uns sich gegenüber diesen Warnsignalen desensibilisiert. Andere sind eben daran resigniert. Wir müssen für Weckschüsse jeder Art dankbar sein. Jetzt müssen wir die Demokratie verteidigen, damit sie wieder ihre selbstverständlichen Aufgaben aufnehmen kann. Dann fahren wir wieder in der demokratischen Drift.

 

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